Nauraka - Volk der Tiefe
trafen sich alle Seevölker, und dementsprechend aufgeregt waren Eri und Luri. Seit sie selbstständig schwimmen konnten, durften sie mit dabei sein; dies war eine der seltenen Vergnügungen, zu denen selbst der gestrenge Hochfürst einmal großzügiger und zugänglicher war und sogar die Grenze zur hell funkelnden Oberwelt übertreten werden durfte.
Sie strömten von allen Seiten zusammen, viele von ihnen waren schon mehrere Dämmerungszyklen unterwegs, um zu handeln, zu tauschen und zu kaufen oder zu verkaufen. Viele Verabredungen wurden wahrgenommen, es war auch ein Ort des Wiedersehens und der Verknüpfung neuer Bande.
Hochfürst Ragdur hatte kurz nach der Thronbesteigung mit dem Bau eines Korallenriffs begonnen, das inzwischen bis an die Oberfläche reichte, wo die Boote der Landhändler festgemacht werden konnten. Zunächst war der Markt nur für die Seevölker gedacht gewesen, doch irgendwann einmal war ein verunglückter Fischer von einem Fischschwänzigen gerettet worden, der weitertrug, was er gesehen hatte. Die meisten hatten ihn natürlich ausgelacht, aber ein paar gewiefte Händler riskierten es einfach, und so war die Verbindung zum Land entstanden. Inzwischen herrschte auch über dem Wasser reger Handel, nicht nur darunter.
Die Nauraka allerdings stiegen nie so weit auf. Und auch wenn Ragdur die Gesetze gelockert hatte, so achtete er doch weiterhin streng darauf, dass niemand seines Volkes zu weit nach oben schwamm. Auch Eri war es nie gelungen, obwohl er sonst sehr gewitzt war. Aber sein Vater war ebenfalls nicht dumm und befahl stets eine Wache an die Seite des Jungen.
Diesmal war das jedoch nicht notwendig, Eri hatte gar kein Verlangen, nach oben zu schwimmen. Er wollte so viel Zeit wie möglich mit Luri verbringen. Noch immer hoffte er, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Luri wollte allerdings nichts hören, sie freute sich viel zu sehr auf das große Ereignis. Die Phylotherae waren ihr zu langsam, am liebsten wäre sie geschwommen, doch das ziemte sich bei diesem öffentlichen Ereignis nicht. Eri verstand sie. Ihm ging es auch nicht anders, er durfte ja nicht einmal Dullo mitnehmen. Im Gegensatz zu seinen Eltern war er die Beförderung in der Sänfte nicht gewohnt.
Schließlich erreichten sie die offene See, und es ging schneller vorwärts. Ringsum wurde gelacht und geschwatzt, während überall Soldaten patrouillierten und nach Gefahren Ausschau hielten.
Eri war aufgeregt, als es immer höher ging, in sanftere Gefilde, fast bis an die Grenze vom Zwielicht zur Sonnenschicht. Das Wasser war hier klar wie ein Türkis, durch den goldene Sonnenfunken trieben, genau wie Luris Augen.
Vor ihnen lag das große Korallenriff mit unzähligen Einrichtungen und Kammern, in denen gehandelt und gefeiert wurde. Ragdur hatte schon vor mehreren Dämmerungszyklen die Bewirtung vorbereiten lassen, und es war alles perfekt. Auch die Überreste des Urantereo wurden hier zum Verzehr und Verkauf angeboten. Lurion hatte zäh mit seinem Vater verhandelt und würde wohl den Großteil des Erlöses behalten dürfen. Eri hatte nie richtiggestellt, dass eigentlich er den Schlängelaal getötet hatte; das war nicht seine Art. Vermutlich hätte es ihm auch keine besondere Anerkennung eingebracht, bei Lurion hingegen war das etwas anderes. Wenigstens hatte er dadurch eine Weile vor Lurion Ruhe, bis der Erbprinz wieder alles verspielt hatte.
Es herrschte schon dichtes Gedränge, als die königliche Familie eintraf und ehrerbietig empfangen wurde. Eri sah die fischschwänzigen Nices, deren Oberkörper wie die der Nauraka waren, sowie großäugige, beschuppte Saniki, Flügelrösschen, die blauen Prione und viele mehr. An diesem neutralen Ort gab es keine Kämpfe oder Feindseligkeiten, die Stimmung war lebhaft und freundlich. Damit sich daran auch nichts änderte, waren Ragdurs gut bewaffnete Soldaten überall sichtbar, in blinkende Schuppenhemden und mit Metallriemen verstärkte Beinkleider gewandet. Wer gegen die Regeln verstieß, wurde sofort ohne lange Anhörung oder Diskussion des Marktes verwiesen. Deshalb war allen daran gelegen, sich zurückzuhalten. Gehandelt wurde überall, bis über die Oberfläche hinaus. Wenn Eri nach oben blickte, konnten seine scharfen Augen fern die dunklen Schatten der Boote erkennen, die ruhig am Riff dümpelten.
»Scheint klares Wetter dort oben zu sein«, bemerkte er und wies hinauf.
»Lúvenors Auge ruht gütig und fürsorglich auf uns«, sagte seine Mutter mit abwesendem Lächeln.
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