Nebelriss
flohen. »Da rennen sie«, rief Malcoran voller Häme, »um sich schlotternd vor Angst in einem Felsenloch zusammenzukauern. Das sind mir wahre Helden!« Er wandte sich wieder Laghanos zu. »Lass uns weitergehen. Es gibt etwas, das ich dir zeigen möchte.«
Das Fortkommen auf dem schlickigen Grund war beschwerlich. Gelegentlich stieß Malcoran einen Fluch aus, wenn er mit dem Schädel die Decke streifte oder seine Füße an einem Felsen hängen blieben. Laghanos hatte Mühe, mit dem Zauberer Schritt zu halten. Nach einer Weile vernahm er ein Geräusch aus der Ferne. Je näher sie ihm kamen, desto deutlicher war es als das Rauschen fließenden Wassers zu erkennen. Bald spürte Laghanos einen feinen Dunst, der ihnen aus dem Gang entgegenkam; ein kühler Hauch, winzige Wassertropfen mit sich tragend, der Lippen und Stirn benetzte.
Der Gang mündete in eine riesige Höhle. Hier endete der Weg, und vor ihnen tat sich ein gewaltiger Abgrund auf. Das grüne Licht, das den Gang erhellt hatte, verebbte und wurde von der Finsternis verschluckt. Das Rauschen war nun deutlich zu vernehmen. Es kam aus der Tiefe; dort unten musste sich ein unterirdischer Wasserfall befinden. Die Luft war erfüllt von Wassertropfen, aufgeworfen von einer ihren Blicken verborgenen Gischt. Laghanos konnte Schleier aus wässrigem Nebel aufsteigen sehen, die sich wie feine Netze über den Abgrund legten, niedersanken und in der Luft lösten.
Malcoran führte ihn zum Rand des Abgrunds. Laghanos erspähte zu seinen Füßen matt schimmernde Schriftzeichen, in Silber auf das Gestein gegossen. Er kannte die Zeichen aus seiner Lehrzeit. Es waren Schutzrunen, die der Unterwerfung und Beherrschung magischer Ströme dienten. Vorsichtig blickte er zu Malcoran auf. Der Zauberer hatte sich an den Rand des Abgrunds gestellt und seine Arme ausgebreitet. Die Augen hatte er geschlossen. Sein Mund aber war geöffnet; er schien das aufsteigende Wasser einzuatmen, streckte gar die Zungenspitze aus, um den Wasserdunst zu schmecken.
… und da war noch etwas in der Luft; etwas, das Laghanos neugierig umgarnte, ihn suchte, nach ihm griff, ohne ihn fassen zu können. Unsichtbare Finger strichen über ihn hinweg, ohne ihn zu spüren, Stimmen wisperten seinen Namen, als wollten sie ihn zu sich rufen. Doch sie konnten ihn nicht entdecken; er schien körperlos geworden zu sein, unfassbar, unauffindbar.
»Rühr dich nicht«, befahl ihm Malcoran. »Bleib dicht bei mir! Dieser Ort ist gefährlich und heimtückisch. Nur in meiner Nähe bist du sicher.«
Du irrst dich, Malcoran. Mir kann dieser Ort nichts anhaben.
Die Erkenntnis erfasste Laghanos wie ein jäher Rausch. Ein Gefühl von Macht durchflößte ihn und ließ ihn den Schmerz in seinem Gesicht vergessen. Entschlossen drängte er sich an Malcorans Seite und breitete die Arme aus.
»Was tust du da?«, zischte Malcoran. »Du darfst nicht ihre Aufmerksamkeit auf dich lenken!« Er versuchte, den Jungen vom Rand der Schlucht fortzuziehen. »Nimm die Hände herab! Schnell!«
Du weißt nichts, Malcoran! Deine Quelle hat keine Macht über mich.
Entschlossen blickte Laghanos in den Abgrund. Der Dunst des aufsteigenden Wassers umhüllte ihn.
Sie ist mir ausgeliefert. Ich kann sie lenken und formen, wie es mir gefällt!
Einem jähen Entschluss folgend, setzte Laghanos einen Schritt nach vorn, über den Rand des Abgrundes hinweg. Spürte den Boden unter den Füßen schwinden. Ein Gefühl der Befreiung durchflutete seinen Körper. Der Dunst des Wassers trug ihn! Er stürzte nicht, er fiel nicht, er wurde von den Wassertropfen in der Luft gehalten. Laghanos streckte alle Glieder von sich, und ein Jubelschrei löste sich aus seiner Kehle.
Ist es dies, wovon Aquazzan gesprochen hat? Ist es Drafurs Atem, der mich trägt?
Der Schmerz kehrte schlagartig zurück, ebenso heftig wie unerwartet. Wie glühendes Feuer jagte er durch sein Gesicht; sein Kinn schien zu bersten, seine Wangen zu zerplatzen. Doch diesmal vermochten die Martern ihm nichts anzuhaben; sie waren bedeutungslos.
Er blickte sich nach Malcoran um. Der Zauberer starrte ihn aus schreckensgeweiteten Augen an. Er streckte Laghanos die Hand entgegen; fast flehend tasteten die fleischigen Finger nach ihm.
Laghanos zögerte. Dann ergriff er Malcorans Hand. Die Intensität der Berührung ließ ihn taumeln. Die Luft, die ihn getragen hatte, wich von ihm; er stürzte, fiel hinab. Doch Malcoran hielt sein Handgelenk eisern umschlossen. Mit einem Ruck zog er Laghanos über den Rand
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