Nebelriss
Pyramide als ihre Länge und Breite; auf der Fläche, die Aru'Amaneth einnahm, hätte mühelos eine kleine Stadt errichtet werden können. Rostrot erhoben sich die schrägen Außenwände aus dem sandigen Boden; die Luft über dem Gestein flimmerte in der brütenden Hitze. Die im spitzen Winkel emporführenden Wände brachen in einer Höhe von wohl hundert Schritt ab, wodurch das Aru'Amaneth einer unfertigen Pyramide glich. Weißer Dunst schwebte über dem Bauwerk, stieg aus dem Inneren des Aru'Amaneth empor.
Ejo hatte den Fürsten zunächst in einen gedrungenen Gang geführt, düster und schmucklos, erleuchtet nur durch seine Pechfackel. Der Gang hatte stetig geradeaus geführt. An einigen Stellen hatte er sich verzweigt; AnubEjan-Mönche hatten an diesen Weggabelungen Wache gehalten. Sonst aber war der Gang menschenleer gewesen.
Schließlich, nach einem etwa zehnminütigen Marsch, hatte Ejo innegehalten. »Wir sind am Ziel, Luchs von Ganata! Ab hier musst du den Weg allein fortsetzen.« Am Ende des Ganges war einfallendes Licht zu erkennen gewesen. »Worauf wartest du? Die Geduld der Königin ist begrenzt!«
So war Baniter allein weitergegangen. Mit jedem Schritt war der Schein von Ejos Fackel schwächer geworden; die Helligkeit am Ende des Ganges hatte hingegen zugenommen. Und dann war Baniter aus der Dunkelheit getreten, um vom Licht der Sonne und vom vertrauten Gesang des Kapuzenvogels begrüßt zu werden. Sechs Terrassen bildeten das Innere von Aru'Amaneth. Wie die Stufen einer Treppe führten sie vom Grund der Pyramide bis nach oben. Die unterste Terrasse, auf der Baniter stand, schloss an einen quadratischen See an. Funkelnd reflektierte die Wasseroberfläche die einfallenden Sonnenstrahlen. Von den oben liegenden Ecken der Pyramide führten vier steinerne Rinnen zum See hinab. Das herabfließende Wasser stammte vermutlich aus einer Quelle unter der Pyramide. Baniter fragte sich, ob es Zauberei oder Sklavenarbeit war, die das Wasser emporbeförderte. Die Rinnen verzweigten sich auf dem Weg über die Terrassen; es handelte sich um ein wohl durchdachtes Bewässerungssystem. Denn das Innere von Aru'Amaneth war ein riesiger Garten, prächtiger als alles, was Baniter in seinem Leben gesehen hatte. Riesige Bäume wuchsen auf den Terrassen: Palmen mit breiten, dunkelgrünen Blättern; lianenverhangene Dreiwurzler mit gewundenen, porös wirkenden Stämmen; pfeilartig aufragende Schattenbrecher, auf deren öliger Rinde Wassertropfen glänzten; kraftstrotzende Windfänger mit ausladenden Baumkronen, von deren Ästen die Fasern abstanden wie borstige Haare. Unter den Bäumen gediehen Sträucher und Blumen von unglaublicher Schönheit; Farngewächse, die in einem edlen Blauton schimmerten; Orchideen, deren vielfarbige Blüten mit goldenem Staub überzogen waren; fremdartige Pflanzen, deren Blättern von solch feiner Struktur waren, dass die Sonnenstrahlen hindurchfielen wie durch das Netz einer Spinne.
Die Luft im Innern der Pyramide war feucht und schwer. Dunst lag in der Luft und filterte das Sonnenlicht. Der Gesang unzähliger Vögel war zu hören. Bunt gefiederte Papageien flogen über den Fürsten hinweg, und auch eine handspannengroße Flugechse segelte aus dem Dickicht, um sich in Baniters Nähe zu Boden fallen zu lassen und flugs unter einem Farnstrauch zu verschwinden. Von den höher gelegenen Ebenen drang das närrische Kreischen eines Affen herab.
Aufmerksam suchten Baniters Augen die nächste Terrasse ab. Es war keine Menschenseele zu sehen. Über sich vernahm er den schmerzhaft schönen Gesang des Kapuzenvogels.
Er scheint sich hier wohl zu fühlen,
dachte Baniter.
Ich wünschte, ich könnte mir sein einfaches Gemüt für einen Augenblick aneignen und alles Misstrauen abstreifen.
Baniter näherte sich der flechtenbewachsenen Steintreppe, die zur nächsten Terrasse emporführte. Er musste Acht geben, um auf den steilen Stufen nicht auszugleiten.
Oben angelangt, fand er ein Dickicht staudenartiger Pflanzen vor, die ihm den Weg versperrten. Blassgrüne Strünke wanden sich aus der Erdkrume, wirr ineinander verschlungen, teils zum Himmel aufstrebend, teils zum Boden zurückfliehend. Sie trugen große, muschelförmige Blüten, die einen süßlichen Duft verströmten. Aus den Blütenkelchen, deren Blätter seidig glänzten, reckten sich fleischfarbene Stempel ans Licht. Sie boten einen Ekel erregenden Anblick. Ihre Unförmigkeit passte nicht zu der natürlichen Schönheit der Blüten; sie waren faltig und
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