Nebelriss
dafür, dass die verlorenen Seelen niemals Frieden finden. Wo Alunais Schwingen schlagen, herrschen Trauer und Trostlosigkeit. Nur Jungfrauen dürfen zu einer Priesterin der Alunai geweiht werden. In ganz Arphat gibt es wohl kaum hundert von ihnen.«
Baniter musterte die Vermummten.
Ob Inthara sich hinter einer dieser Masken verbirgt? Vom Ufer aus wäre sie in der Lage, mich genau zu beobachten. Und sie wäre in der Lage, Lyndolins Stimme deutlich zu vernehmen.
»Gott Nesfer hat das Opfer angenommen!«, schallte die Stimme Sentschakes über den Fluss. Der Priester stand an der Spitze des Floßes, die Arme ergriffen ausgebreitet. Auf seinem aufgedunsenen Gesicht glänzte der Schweiß. »Die Ernte des kommenden Jahres ist von den Göttern gesegnet! Ke'shai wird uns Regen schenken und Agihor Licht; Tanete wird das Korn sprießen lassen und K'aalun die Heuschrecken von unseren Feldern fern halten.« Eine Welle des Jubels erfasste die Menschen. Doch Sentschake bedeutete ihnen zu schweigen. Er streckte die Hand in Baniters Richtung aus. »Vor wenigen Tagen erreichte uns eine Gesandtschaft des abtrünnigen Südens!« Empörung brandete in der Menge auf, während Sentschake fortfuhr: »Wir haben die Südländer in Freundschaft aufgenommen. Solange sie bei uns sind, soll Praa ihnen eine zweite Heimat sein. Deswegen luden wir sie zu unserem heiligen Fest; und auch wenn unser Glaube und unsere Sitten ihnen fremd sind, wollen sie den Göttern Arphats ein Geschenk darbringen!« Noch immer herrschte Unmut unter den Arphatern; eine Frau spie den Namen Kaiser Akendors hervor, und Gelächter erklang ringsum. Sentschake aber ließ sich nicht beirren. »Lyndolin Sintiguren befindet sich unter den Gesandten … jene Lyndolin Sintiguren, deren Lieder unsere Herzen bewegen.« Das Gelächter verebbte. Staunend wandten sich die Arphater der alten Frau zu. »Sie will diesen Tag mit ihrem Gesang ehren! Denn heute blicken die Götter auf uns herab. Sie sind es, denen ihr Lied gilt.«
Es gilt vor allem einer Göttin,
dachte Baniter,
der Tochter des Sonnengottes.
Er beobachtete die vermummten Priesterinnen. Auch sie hatten sich Lyndolin Sintiguren zugewandt.
Die Dichterin hatte unterdessen das Tuch, in dem die Harfe eingeschlagen gewesen war, zu Boden sinken lassen. Zögernd wandte sie sich der Menge zu. »Ich danke Euch, Bürger von Praa. Gern trete ich heute vor Euch. Mein Weg durch die Wüste war lang und beschwerlich; umso glücklicher bin ich, wohlbehalten in Eurer gastfreundlichen Stadt eingetroffen zu sein!«
Was soll das Gefasel?,
ärgerte sich Baniter.
Es ist nicht das Hohelied auf die arphatische Gastfreundschaft, das du singen sollst!
Schon hörte man einige der Menschen aufmurren. Zweifellos hatten sie sich die legendäre Dichterin anders vorgestellt, vermutlich jünger und attraktiver.
»Ich will Euch ein Lied vortragen«, rief Lyndolin. Sie rückte die Harfe in ihrer linken Hand zurecht. »Ein Lied, um den König zu preisen, der Arphat seinen Namen und seine Gestalt gab. Ich will von seinem Feldzug singen, durch den er das Land einte und jene strafte, die sich weigerten, mit ihm in den Krieg zu ziehen.« Sie schlug sanft die Saiten der Harfe an, und ein weicher Klang hüllte ihre letzten Worte ein. »Es ist das Lied von der aufständischen Stadt Dalal'Sarmanch, die der große Apetha niederrang, als sie sich ihm in den Weg stellte.« Aus den Gesichtern der Arphater sprach Verwunderung. Die Legende von Dalal'Sarmanch war jedem von ihnen vertraut; umso erstaunlicher war es, sie aus dem Mund einer sitharischen Dichterin zu vernehmen. Auch die Priester warfen sich fragende Blicke zu.
Lyndolins Finger griffen in die Saiten, und ein dunkler, rollender Akkord baute sich auf. Die Arphater hielten den Atem an. Selbst der Wind schwieg, als die Dichterin mit voller, kräftiger Stimme anhob:
»Wie viele Tage und Stunden vergehn
bis sie fallen, die Türme von Dalal'Sarmanch?
Wie viele Strahlen der Sonne benetzen
und küssen die Zinnen von Dalal'Sarmanch?
Wie viele Kinder gebären die Frauen
die hinter den Mauern ihr Tagewerk tun?
Wie viele hämische Lieder erschallen
vom herrischen Fried dieser störrischen Stadt?
Wann werden sie stürzen, die ewigen Spötter,
die Türme von Dalal'Sarmanch?
Hört ihr denn nicht, überhebliche Narren,
die haltlosen Heere vor Dalal'Sarmanch?
Wisst ihr denn nicht, wie entschlossen sie nahen
zu schleifen die Türme von Dalal'Sarmanch?
Goldenes Rüstzeug und klirrende Schwerter
am Rochen geschärft und an
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