Nebelriss
Candacars Stahl
getaucht in das Blut der gefallenen Gegner
bald richten sie sich gegen euch!
Ja, bald umschließt der Griff der goldenen Klaue
die Türme von Dalal'Sarmanch.
Glaubt ihr tatsächlich, ihr könntet ihm trotzen
dem Zorn des Feindes von Dalal'Sarmanch?
Ihr habt ihn verlacht, ihr habt ihn gefordert,
ihr törichten Bürger von Dalal'Sarmanch!
Vertraut ihr dem Schutz eurer pechschwarzen Mauern?
Niemand steht bei euch, ihr streitet allein!
Allein wollt ihr schlagen den mächtigen König
und hofft, dass die Zeit seine Stärke zermürbt.
Doch in dreißig Zügen sind sie schon in Trümmern:
die Türme von Dalal'Sarmanch!«
Nicht in seinen kühnsten Träumen hatte Baniter sich eine so überwältigende Wirkung von Lyndolins Gesang erhofft. Waren die ersten Zeilen ihres Liedes noch von leisem Gemurmel und gelegentlichen Zwischenrufen begleitet worden, war die Menge gegen Ende der ersten Strophe in andächtiges Schweigen versunken, gefesselt von Lyndolins klarer Stimme. Es war, als hätte die Welt für einen Moment innegehalten, als hätten die grausamen Götter der Arphater Lyndolins Gesang tatsächlich gelauscht. Vergessen war der Anblick, den die gebeugte Frau ihrem Publikum bot; so schwach und alt sie auch wirkte, ihr Gesang war von einer Kraft, die jeden Zuhörer tief berührte. Als Lyndolin geendet hatte und ihre Harfe verklang, herrschte noch immer Schweigen am Ufer des Flusses. Sentschake war der Erste, der seine Stimme erhob. »Ich habe selten ein Lied von solcher Schönheit gehört«, stieß er hervor und presste die Hand an die Brust. »Mir war, als hätte Agihor während Eures Gesangs mitten in mein Herz geblickt!«
Ich möchte nicht wissen, was er dort gesehen hat.
Baniter wandte sich Lyndolin Sintiguren zu. »Ihr habt Euch selbst übertroffen«, lobte er sie. Er wies auf die Menschen, die nun begeisterte Jubelschreie hervorstießen und den Namen der Dichterin gen Himmel riefen, LYNDOLIN, LYNDOLIIIIN … »Dieses Lied wird den Arphatern im Gedächtnis bleiben.«
Sie ließ die Harfe sinken. »Dann hat es wohl seinen Zweck erfüllt«, erwiderte sie ruhig. »Ich hoffe, es schmerzt Euch nicht, dass der Jubel allein mir gilt, wo doch die Urheberschaft …«
»Oh, mein Beitrag war gering«, unterbrach Baniter sie lächelnd. »Eure Stimme erst hat die Worte zum Leben erweckt.«
Er bemerkte, dass einer der Anub-Ejan-Mönche, der zuvor die Alunai-Priesterinnen bewacht hatte, sich ihnen näherte. Er tauschte einige Worte mit dem großen Ejo, worauf sich dieser dem Fürsten zuwandte. Baniter lächelte den Schechim erwartungsvoll an. »Hat der Gesang Euch gefallen, großer Ejo? Das traurige Schicksal von Dalal'Sarmanch dürfte selbst das grimmige Kriegerherz eines Anub-Ejan rühren.« Ejo musterte Baniter kalt. »Spar dir die süßen Worte, Luchs von Ganata«, knurrte er. »Die Königin möchte dich sehen! Sie wird dich in einigen Stunden im Aru'Amaneth empfangen, im königlichen Palast - dich allein!« Er deutete auf Merduk und Gahelin, die hinter Baniter Stellung bezogen hatten. »Schick deine Leibritter fort und folge mir. Die Königin duldet es nicht, wenn man sie warten lässt.«
Baniter deutete eine Verneigung an. »Wie könnte ich die Königin warten lassen? Ich folge Euch flink wie eine Gazelle.« Seine Augen funkelten vor Vergnügen.
Es ließ sich als deutliches Zeichen für Tathrils Wohlwollen deuten, dass der Kapuzenvogel am Leben war. Seit der Überquerung der Bogenbrücke von Pryatt Parr hatte Baniter ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen; schließlich hatte der große Ejo die Kutsche mit den Geschenken für die arphatische Königin am Rand des Nebelrisses beschlagnahmt. Es war nahezu unglaublich, dass das Tier die Reise unbeschadet überstanden hatte: die harsche Kälte des palidonischen Winters, die Glut der praatischen Wüste und schließlich die Fürsorge der Anub-Ejan, die von der Haltung südländischer Ziervögel sicher nicht allzu viel verstanden. Doch er lebte; mit seinem leuchtenden Gesang begrüßte er Baniter, als dieser das Innere der Stufenpyramide betrat, und als der Vogel dicht am Kopf des Fürsten vorbeiflog und dabei eine hellrote Feder seines schimmernden Schweifes verlor, gab es keinen Zweifel mehr: Das Glück war auf Baniters Seite.
Es war ein seltsames Gefühl gewesen, am Fuße des Aru'Amaneth zu stehen. Die Stufenpyramide bot schon aus der Ferne einen imposanten Anblick, doch aus der Nähe betrachtet war ihre Größe geradezu beängstigend. Es war weniger die Höhe der
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