Nebelriss
erwiderte Laghanos. ›Niemand kann dich mehr in seinen Willen zwingen.‹ Er führte die Hände der Geister an sein Gesicht; spürte die Kälte seiner Maske in ihre Finger übergehen. Sie atmeten nun ruhig, und ihre silbernen Augen waren geschlossen. Es war ein Augenblick der Stille. Alles um Laghanos kam zur Ruhe; jede Bewegung verharrte. Die Höhle entschwand, und Laghanos fühlte sich von Drafurs Atem emporgerissen. Ein Gefühl grenzenloser Freude durchflutete ihn.
Nun erst ist die Träne des Nordens wirklich frei. Sie hat sich von mir gelöst und ich von ihr; sie wird mich nicht mehr hassen und verfolgen.
Doch seine Freude verging schlagartig, als er die Stimme vernahm - eine Stimme, die zu lange in ihm gewohnt hatte, als dass er sie vergessen konnte.
Behutsam blätterte Naikaya die Seiten des Folianten um. Das hauchdünne Papier knisterte unter ihren Fingern. Es war sehr brüchig; bei jeder unsanften Berührung drohten die beinahe durchsichtigen Buchseiten in ihrer Hand zu zersplittern wie dünnes Glas.
Das Buch, in dem die Zauberin seit Stunden las, war das älteste Schriftstück der Bibliothek von Oors Caundis, ein uralter Foliant mit einem zerschlissenen Ledereinband. Es handelte sich um Cladimors Schriften, die Aufzeichnungen des ersten Logenmeisters von Oors Caundis. Er war ein Schüler Durta Slargins gewesen, zudem ein bedeutender Zauberer und Sterndeuter. Unter seiner Führung hatte die Malkuda die Quellen von Candacar erschlossen und war zur mächtigsten Loge des Nordens aufgestiegen. Cladimors Aufzeichnungen berichteten von der wechselhaften Geschichte der Malkuda; von der Erschließung der Höhlen unter dem Rochen, von dem Kampf gegen die Geister und Dämonen des Arkwaldes und den Schlachten mit den feindlichen Logen. Leider hatte Cladimor das Buch nicht in der candacarischen Sprache verfasst, sondern eine uralte Schrift verwendet, die längst in Vergessenheit geraten war. Allein die Zeichnungen, die auf jeder Seite zu finden waren, gaben Aufschluss über den Inhalt des Buches.
Seit Stunden hockte Naikaya an ihrem Schreibpult in der Bibliothek von Oors Caundis und blätterte in dem uralten Folianten. Es war kein leichtes Unterfangen, denn oft klebten die spröden Seiten aneinander oder rissen bei der geringsten Berührung ein. War es Naikaya gelungen, eine Seite umzuschlagen, warf sie einen raschen Blick auf die Zeichnungen und tastete sofort nach der nächsten Seite. Immer wieder warf sie nervös den blonden Zopf über die Schulter zurück, und während des Lesens nagte sie an der Unterlippe, denn sie hatte noch immer nicht gefunden, wonach sie seit Tagen suchte.
Gelegentlich schreckte die Zauberin auf, hielt den Atem an und fasste sich an den Hals, wo sie ein Kribbeln verspürte. Denn in diesen Stunden wogten wilde Sphärenströme durch Oors Caundis. Selten wurde in den Höhlen unter dem Rochen ein so machtvolles Ritual abgehalten wie an diesem Tag. Der Innere Zirkel der Malkuda hatte sich bei der Quelle versammelt, um Laghanos in die Welt der Goldei zu folgen. Nur Naikaya hatte sich geweigert, daran teilzunehmen. Am Vortag hatte sie einen letzten Versuch unternommen, Malcoran von der Durchführung des Rituals abzubringen. Sie hatte ihn beschworen, nicht mit dem Leben des Jungen zu spielen, die Maske von seinem Gesicht zu entfernen und ihn von den Schmerzen zu befreien, die ihn quälten. Doch Malcoran hatte nicht auf sie gehört und Laghanos ein zweites Mal zur Quelle gebracht. Das Ritual währte bereits mehrere Stunden. Je länger es dauerte, desto mehr wuchs Naikayas Furcht.
Ungeduldig schlug sie die nächste Seite des Buches auf. Auch diese wies deutliche Beschädigungen auf; ihr Rand war eingerissen, und das untere Drittel war abgesplittert wie das Perlmutt von der Innenseite einer Muschel. Vorsichtig bettete Naikaya ein schwarzes Seidentuch unter das transparente Papier. Der dunkle Hintergrund ließ eine Abbildung auf dem Papier hervortreten, die Naikaya sofort wieder erkannte. Es waren die blassen Konturen eines Gesichts. Stirn, Haaransatz und Ohren waren lediglich angedeutet, die Augen als schmale Schlitze dargestellt. Der untere Teil des Gesichts verschwand unter einem Geflecht dünner Striche. Winzige Zahlen fanden sich in den Achsen und Winkeln; kleine Pfeile deuteten zu einem nahe stehenden Text, dessen Worte unverständlich blieben. Andere Pfeile wiesen auf den unteren Teil der Seite, der verloren gegangen war.
»Ich wusste es«, flüsterte Naikaya, »ich wusste, dass ich die
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