Nebelriss
hat sich schon seit mehreren Kalendern nicht mehr bei der Ritterschaft blicken lassen; und ihre Schwerter hat er zuletzt vor einem halben Jahr geweiht.«
Ashnada wusste nur wenig über das Ritual der Schwertweihe. Es handelte sich um einen mächtigen Zauber, mit dem der Hohepriester regelmäßig die Waffen der Tempelritter segnete. Was er bewirkte, war ihr unbekannt; doch es hieß, die legendäre Kampfkraft des Ordens beruhe auf diesem Ritual.
»Selbst die wichtigsten Pflichten versäumt er«, fuhr Bars Balicor fort. Es schien, als spräche er mehr zu sich selbst. »Und statt sie mir zu übertragen, verweigert er mir den Zugang zur Quelle.«
»Seid Ihr inzwischen zu ihm vorgedrungen?«, fragte Ashnada.
»Er lässt niemanden zu sich«, zischte Bars Balicor. »Selbst die Ärzte weist er ab, obwohl sich sein Zustand deutlich verschlechtert hat.« Seine Augen blitzen für einen kurzen Moment auf. Es war unschwer zu erraten, was in seinen Gedanken vorging.
Ein Ruf schallte durch den Tempelhof. Bars Balicor blieb stehen und beobachtete, wie die Novizen eine letzte Verbeugung vor dem Altarstein machten und dann schweigend den Weg zu einem der Seitengebäude einschlugen.
»Doch warum erzähle ich dir das alles?«, sagte Bars Balicor leise. Sein verschlagener Blick wanderte zu Ashnada. »Warum erzähle ich dies einer Verbrecherin, die nichts von den Angelegenheiten der Kirche versteht, die nicht einmal an jenen Gott glaubt, der sie vor einem elenden Tod bewahrt hat? Soll ich noch mehr sagen?« Ashnada erstarrte.
»Ich sehe, du hast es nicht vergessen«, höhnte der Erzprior. »Es wäre auch sehr unklug von dir. Deiner Vergangenheit kannst du nicht entfliehen. Und mein Gedächtnis ist gut.«
»Wie könnte ich an Eurem Gedächtnis zweifeln«, stieß Ashnada hervor. »Ich weiß, dass ich Euch etwas schulde. Was verlangt Ihr noch von mir?«
»Mir genügt es vorerst, wenn du mich mit deinen frechen Reden verschonst«, erwiderte Bars Balicor und wandte sich von ihr ab. »Und nun komm! Ich bin von einigen Kaufleuten in der Stadt zum Essen geladen - noch mehr Gejammer, fürchte ich.«
Ashnada folgte dem Prior. Mühsam schluckte sie ihren Zorn herunter. Als sie den Torausgang passiert hatten, wurde sich Ashnada plötzlich der Schriftrolle gewahr, die sie noch immer in der linken Hand hielt. Erneut entrollte sie das Pergament und überflog es.
Bars Balicor warf einen Blick über die Schulter. »Was hast du da?«
»Eine Botschaft«, antwortete Ashnada. »Man brachte sie mir vorhin in den Tempel. Es scheint, als erlaubte sich jemand einen Spaß mit mir, denn ich kann in diesem Geschreibsel keinen Sinn erkennen. Oder sagen Euch diese Verse etwas?« Sie reichte dem Prior die Schriftrolle herüber. »Der Rosenstock trägt keine Blüten mehr …« Bars Balicor blieb wie vom Donner gerührt stehen. Hastig riss er das Pergament an sich und verschlang die Worte mit den Augen, während Ashnada fortfuhr: »… und Mondschlund schweigt …«
Mit brutalem Griff packte der Prior ihren Arm. Sein Gesicht war fahl; selbst die dunklen Male, die es entstellten, waren erblasst. »Woher hast du diese Schriftrolle? WOHER?«
Ashnada entwand sich seinem Griff mit einem kühlen Lächeln. »Dann ist diese Botschaft wohl für Euch, Prior. Ein Botenjunge brachte sie mir. Er wollte mir nicht sagen, wer sie ihm gab, doch er beharrte darauf, sie mir zu übergeben.« Sie beobachtete genüsslich, wie Balicor mit weit aufgerissen Augen die Botschaft überflog. »Was bedeuten diese Worte? ›Der Rosenstock trägt keine Blüten mehr …‹«
Der Prior ließ die Schriftrolle sinken. Seine Augen waren voller Furcht. »›… und Mondschlund schweigt … noch herrscht der Tag, doch bald sinkt schwer die Finsternis in unsre Sinne, und hüllt in Schatten, was kein Mensch erblicken darf …‹« Er hielt erschrocken inne. Dann reichte er Ashnada mit zitternden Händen das Pergament. »Der Bettler. Er hat sie mir geschickt.«
Ashnada zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Der Bettler, der Euch vor dem Tempel angegriffen hat?« Sie hatte die Begebenheit schon fast vergessen. »Er scheint Euch zu verfolgen. Kennt Ihr ihn?« Balicors Mund war ein schmaler Strich. »Finde diesen Botenjungen«, befahl er. Sein Tonfall ließ Ashnadas Lächeln in sich zusammenfallen. »Er muss dir sagen, wer ihm die Botschaft gab. Und wage es nicht, mir unter die Augen zu treten, bevor du es in Erfahrung gebracht hast.«
Fürst Scorutar spielte seine Rolle hervorragend. Die Mundwinkel
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