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Nebelriss

Nebelriss

Titel: Nebelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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sich unsere Ankunft in Praa verzögert? Habt Nachsicht mit der Langsamkeit einer alten Frau und nutzt die Zeit, die durch mich verloren geht, um Eure Eile zu zügeln. Die Hast der Jugend führt oft vom Wege ab.«
    Es
ist nicht die Hast der Jugend, die mich vorantreibt, sondern die Hast der Notwendigkeit,
dachte Baniter. Je eher er die Hauptstadt Arphats erreichte, desto eher konnten die Verhandlungen mit der Königin beginnen. Jeder verlorene Tag spielte den Goldei in die Hände.
    »Zumindest ist es sinnvoller, sich auf die Weiterreise vorzubereiten, als in eine bodenlose Felsenspalte zu starren«, sagte er. »Was wollt Ihr dort unten schon erkennen? Der Nebel ist zu dicht, als dass Ihr auf den Grund sehen könntet.«
    »Niemand kann auf den Grund des Nebelrisses sehen«, antwortete Lyndolin Sintiguren, »nicht am Morgen, nicht am Abend. Sommer wie Winter vergehen, doch der weiße Atem der Schlucht versiegt nie.« Sie beobachtete Baniter. »Was, Fürst von Ganata, befindet sich wohl dort unten in der Tiefe?«
    »Soweit ich weiß, sind von all den Verrückten, die in die Schlucht herabgestiegen sind, nur wenige zurückgekehrt«, sagte Baniter. »Manche behaupteten, am Grund der Schlucht befinde sich ein See, aus dem der Nebel emporsteigt. Andere sprachen von einem dichten Wald, wilder noch als jener in der Regenebene von Gyr. Ich für meinen Teil vermute, dass keiner dieser Leute tatsächlich zum Grund vordringen konnte; dass die Schlucht zu tief ist, um ihn zu erreichen.«
    Die Dichterin nickte. »Und doch haben immer wieder Menschen versucht, den Nebelriss zu erkunden - ist das nicht merkwürdig, Fürst Baniter?«
    »Es ist unverständlich! Die Schlucht ist kaum zehn Meilen lang; wer vernünftig ist, umreitet sie einfach. Nur der Unvernünftige steigt in sie hinab.«
    »Was ist mit dem, der über sie hinwegsteigt?«, fragte Lyndolin Sintiguren. »Gehört nicht auch er zu den Unvernünftigen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie mit einem Lächeln auf den Lippen fort. »Wusstet Ihr, dass die weisen Priester der Palidonier sich zum Rand der Schlucht begaben, um aus dem Nebel den Lauf des Schicksals zu bestimmen? Sie glaubten, dass ihnen die Götter Botschaften aus der Tiefe sandten.« Sie wies in die Schlucht. Dort hatte sich ein Loch in der Nebelschicht aufgetan. Wie von einem mächtigen Sog wurde es nach unten gezogen, und die auseinander gerissenen Schwaden umstürzten es wie tobende Meeresgischt. »Sie standen wie wir an dieser Stelle, um im Spiel des Nebels die Wahrheit zu finden.«
    Baniters grüne Augen blitzten voller Spott. »Ich dachte, Ihr sucht die Wahrheit in den Sternen. Ist Euer Genick so steif geworden, dass Ihr Euren weissagenden Blick nur noch zu Boden richten könnt?«
    Sie beobachtete ihn aufmerksam. »Ich sehe, Ihr glaubt nicht an die Macht der Prophezeiung - anders als Eure Mutter. Sie schätzte meinen Rat und auch meine Balladen. Ich war oft in Vara zu Gast, um die Schönheit und Einzigartigkeit dieser Stadt zu besingen. Als Ihr noch ein Kind wart, Baniter, ein hübscher Junge mit leuchtend grünen Augen, habt Ihr oft auf meinem Schoß gesessen und meinen Worten gelauscht - erinnert Ihr Euch daran?«
    Ja, Baniter erinnerte sich; er sah vor sich das Bild einer Frau mit wehendem Gewand und kurzem blondem Haar, deren Augen ebenso weise wie durchdringend waren. Er erinnerte sich, wie diese Frau am Fenster der großen Rundhalle gestanden hatte, in der seine Familie Gäste zu empfangen pflegte. Er hörte die weiche Stimme der Dichterin; die Worte hatte er kaum verstanden, doch der Gesang war ihm im Gedächtnis geblieben, und auch der verträumte Blick seiner Mutter, wenn sie Lyndolin Sintigurens Gedichten gelauscht hatte.
    »Die Familie Geneder war der Kunst der Worte stets zugetan«, fuhr Lyndolin fort. »Als ich ein Mädchen war, jung und unerfahren - ich folgte damals dem Barden Welegar, der mein Onkel und Lehrmeister war -, sang ich zum ersten Mal auf Burg Trochtar, dem Stammsitz der Geneder auf der Eisernen Insel von Vara. Euer Großvater Norgon war ein großer Freund aller Barden und Dichter; ich weiß, dass er selbst Verse und Reime schrieb, die von großer Schönheit waren. Er war ein bewundernswerter Mann voller Tatendrang …«
    »Leider beschränkte sich sein Tatendrang nicht auf das Reimen und Dichten«, unterbrach Baniter sie schroff. »Was Euch betrifft, so habt Ihr zweifellos an allen Höfen des Kaiserreiches Eure Kunst zum Besten gegeben. Doch wie steht es mit Arphat? Wie oft habt

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