Nebelriss
er: »Und wie werdet Ihr nun mit der frechen Forderung der Arphater verfahren?« »Wie ich mit allen frechen Forderungen verfahre«, sagte Baniter unwirsch. »Ich werde sie ignorieren. Wahre Diplomatie, Sadouter Suant, wird nicht mit Verdächtigungen und Beleidigungen betrieben, sondern mit Bedacht und Schlauheit.« Er wandte sich wieder dem Boten zu. »Reite zur Schlucht und bereite alles für unsere Ankunft vor. Wir werden diese Nacht in euren Quartieren verbringen und erst morgen über die Grenze gehen. Bis dahin richte dem Anführer der Arphater meine Ehrerbietung aus. Ich werde ihn morgen beim höchsten Stand der Sonne auf der Bogenbrücke treffen.«
Der Bote deutete eine Verneigung an. Dann wandte er sein Pferd. Bald verschluckte der Nebel Ross und Reiter, und nur mehr das Getrappel der sich entfernenden Hufe war zu hören.
Die Schlucht am nördlichen Ende des Hochlandes hatte viele Namen. Die Arphater nannten sie den Nebelriss; in ihm, so besagten alte Legenden, wurden die Wolken geboren. Sie drangen aus dem Erdinneren hervor, um die Welt mit Regen zu belohnen und mit Stürmen zu strafen. In den Sagen der Palidonier hieß die Schlucht Golganor, das Tor der Tiefe, der Eingang zum Reich der alten Götter, die über Steine und Felsen herrschten. Um sie zu besänftigen, trieben die palidonischen Stammesfürsten der Alten Zeit ganze Schafherden in die Schlucht. Erst die Eroberung des Hochlandes durch die Arphater hatte diesem Brauch ein Ende bereitet. Nachdenklich starrte Baniter über den Rand der Schlucht. Wenige Schritte vor ihm stürzte das graue Gestein beinahe senkrecht in die Tiefe. Ein letzter, moosbewachsener Felsvorsprung ragte aus der Schlucht empor; darunter nichts als waberndes Weiß, dichter, langsam aufsteigender Nebel, der sich aus der Tiefe hervorhob und jede Sicht auf den Grund versperrte.
Auch die andere Seite der Schlucht lag im Nebel, obwohl Baniter wusste, dass sie kaum einen Steinwurf entfernt war. Dort drüben ragte Pryatt Parr auf, der höchste Berg des Hochlandes, und dort begann Arphat, das Land der Ewigen Sonne. Die Schlucht markierte die Grenze zwischen Arphat und dem Kaiserreich und zugleich das Ende des Hochlandes. Denn hinter Pryatt Parr führte der Weg stetig bergab, erstreckten sich die Täler und Geröllfelder nur noch wenige Meilen in den Norden, um dann in die Wüste von Praatien überzugehen.
Baniter wandte den Kopf und blickte auf das Steinhaus, in dem die Gesandtschaft untergebracht war. Aus dem Kamin des Hauses stieg Rauch empor, und aus den Ställen drang das Wiehern der Pferde. Aus der Ferne vernahm Baniter die undeutlichen Rufe der Krieger, die den Kopf der Bogenbrücke bewachten. Hin und wieder erblickte Baniter die Umrisse der Brücke im dahinwehenden Weiß: der Bogen von Pryatt Parr, der einzige befriedete Übergang zwischen Arphat und Sithar. Sieben Friedensverträge waren hier unterzeichnet worden, und selbst in Kriegszeiten hatten beide Seiten den Frieden von Pryatt Parr geachtet.
Das heisere Husten einer Frau ließ Baniter herumfahren. Er erblickte eine gebeugte Gestalt am Rand der Schlucht, nur undeutlich zu erkennen im Nebel. Vorsichtig näherte er sich. Als er hinter ihr stand, drehte die Frau den Kopf.
»Ihr seid früh auf den Beinen«, sagte Baniter. »Wir werden erst in einigen Stunden aufbrechen. Die Strecke, die vor uns liegt, wird ebenso anstrengend sein wie jene, die wir bereits bewältigt haben. Ihr braucht den Schlaf, um Euch zu erholen.«
Lyndolin Sintiguren war eine kleine, dürre Frau, vom Alter gebeugt, die schütteren Haare grau gelockt. Falten hatten sich tief in ihr Gesicht gegraben, die Haut war fleckig wie altes Pergament. Allein ihre Augen und ihr Mund hatten dem Alter getrotzt; die Lippen waren noch immer voll und rosig, ihre Augen klar und groß wie die eines Mädchens. »Ihr sorgt Euch rührend um mein Wohlergehen, Fürst Baniter«, antwortete Lyndolin. Auch ihre dunkle, angenehm weiche Stimme war vom Alter unberührt. »Der Schlaf hat mir in jungen Jahren genug Lebenskraft geschenkt, sodass ich noch heute davon zehre. Mein Geist bedarf nur noch weniger Stunden Schlaf; vielleicht ahnt er voraus, dass er bald all den versäumten Schlummer, all die ungeträumten Träume nachholen wird.«
»Euer Geist mag mit wenigen Stunden Schlaf auskommen, aber was ist mit Eurem Körper?«, erwiderte Baniter ungeduldig. »Ihr wart in den letzten Tagen oft erschöpft.«
Die Dichterin musterte ihn mit ihren wachen Augen. »Seid Ihr verärgert, weil
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