Nebelriss
Ihr dieses Land besucht, Lyndolin Sintiguren?« Die Dichterin schüttelte traurig den Kopf. »Niemals, mein Fürst; der Hass und die Kriege verhinderten es. Nur meine Balladen und Gedichte reisten nach Arphat, und soweit ich weiß, erreichten sie eine große Zuhörerschaft und noch größeren Ruhm.«
»Wie erklärt Ihr es Euch, dass die Arphater Eure Werke den Balladen ihrer eigenen Dichter vorziehen?«, fragte Baniter.
Lyndolin Sintiguren blickte wehmütig in die Schlucht hinab. »In Sithar dichtet man, um die Menschen zum Weinen oder Lachen zu bringen, zum Nachdenken oder zum Vergessen. In Arphat hingegen dichtet man nur, um zu erinnern - an gewonnene Kriege und verlorene Schlachten, an gefallene Könige und geschlagene Feinde, an verlorene Länder und geraubtes Gold. Arphats Dichter sind nichts als Geschichtsschreiber. Sie kämpfen mit Feder und Laute, um das Gedenken an die einstige Macht des arphatischen Volkes wach zu halten. Ihre Verse sind wortgewaltig, doch sie sind kalt. Meine hingegen handeln vom Leben. Wenn ich ein geschichtliches Ereignis beschreibe, lasse ich Trauer und Wut, Hoffnung und Freude in mein Lied einfließen, versuche die Zuhörer aufzurütteln und zum Nachdenken zu bewegen. Deshalb liebt man meine Lieder selbst am Hof in Praa. In ihnen entdecken die Arphater Gefühle, die ein Dichter ihres Volkes nicht kennen darf.« »Ist das der Grund, wieso Ihr unsere Gesandtschaft begleitet?«, fragte Baniter. »Wollt Ihr Königin Intharas Dichter unterweisen, wie man Balladen schreibt?«
Die alte Frau wandte verärgert den Kopf zur Seite. »O nein, Fürst Baniter. Mir geht es darum, Frieden zu schaffen. Ich sah in den Sternen die Vorzeichen eines grausamen Krieges. Ich sah Tod und Verderben.« Ihre Stimme hatte sich zu einem Flüstern gewandelt. »Doch ich erkannte auch Hoffnung am nächtlichen Himmel; und ich sah meinen Geburtsstern in hellem Licht erstrahlen. Als Fürst Arkon mich bat, der Gesandtschaft mit meinem Rat beizustehen, wusste ich, was diese Prophezeiung bedeutete: dass ich mich nach Arphat begeben muss, um dort mit der Kraft meiner Worte einen Krieg zu verhindern.«
Das
hatte ich befürchtet,
fuhr es Baniter durch den Kopf. »Dann, verehrte Lyndolin Sintiguren, habt Ihr entweder die Prophezeiung oder den Auftrag unserer Gesandtschaft falsch verstanden. Wir reisen nicht nach Arphat, um einen Krieg zu verhindern, sondern um einen vorzubereiten - den Krieg gegen die Echsen, die unsere Welt bedrohen.«
»Die Sterne lügen nicht«, beharrte Lyndolin Sintiguren, »und die Zeit wird zeigen, wie wir sie zu deuten haben.« »Die Deutung überlasse ich Euch«, sagte Baniter kalt. »Doch was die Verhandlungen mit der Königin betrifft, so haltet Euch dort mit Prophezeiungen zurück - ob Ihr sie nun aus den Sternen oder aus Nebelschwaden gewinnt! Das Bündnis mit Arphat ist zu wichtig, als dass wir es durch Wahrsagerei aufs Spiel setzen dürfen.« In Lyndolins Augen schimmerte Enttäuschung. »Was hat Euch bloß so hartherzig werden lassen, Fürst Baniter? Ich erkenne in Euch nicht mehr den fröhlichen Jungen, der ihr einmal wart. Wisst ihr, dass ich ein Gast auf Eurer Hochzeit war? Damals wart Ihr noch nicht so verbittert, wie Ihr es heute seid!«
Baniter runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erinnern, die Dichterin auf seinem Hochzeitsfest gesehen zu haben. Über fünfzehn Jahre war dieser Tag nun her; er schien ihm so fern zu sein. Damals hatte er Jundala Bermaris, die Tochter des Barons von Bolmar, zur Frau genommen; eine reine Zweckehe, die dazu dienen sollte, den mächtigen Baron aus dem Süden Ganatas enger an das Fürstenhaus zu binden. Baniter hatte die anstrengende, aber prachtvolle Zeremonie noch gut in Erinnerung, und unwillkürlich musste er lächeln, als ihm der Augenblick in den Sinn kam, in dem die Priester seine junge Frau in den Tempel geführt hatten und er zum ersten Mal Jundalas Gesicht erblickt hatte. Ihr Anblick hatte ihn sogleich gefesselt: die nicht übermäßig hübschen, doch äußerst klugen Gesichtszüge; die blauen Augen, die voller Schläue gefunkelt hatten. Und als sich ihr Mund zu einem freundlichen Lächeln verzogen hatte, hatte Baniter erkannt, dass er in Jundala die Frau seines Lebens gefunden hatte. Es war nicht stürmische, jugendliche Liebe, die sie verband, nicht törichte Anbetung oder lustvolles Begehren. Es war der Ehrgeiz, der sie einte. Jundala hatte ihm drei Kinder geboren, und seit er selbst Fürst und Mitglied des Thronrates war, hatte sie ihm
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