Nebelschleier
zugetragen hatte. Auch Rosi wollte wissen, wie es ihrer Schwester ging.
»Den Umständen entsprechend würde ich sagen. Sie reißt sich sehr zusammen.«
»Das hat sie immer schon getan«, nickte Rosi. »Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Einerseits bin ich einfach traurig, dass er tot ist. Er war mein Vater und ich habe nicht nur schlechte Erinnerungen an ihn.«
Johannes sagte nichts, atmete nur laut hörbar aus.
»Ich weiß, du siehst das anders, Johannes. So empfinde ich das nun mal!«, blieb Rosi dabei. »Ich habe mich ja auch von ihm losgemacht und dich geheiratet, obwohl ich hätte wissen müssen, dass er mir das nie verzeiht. Aber die Paola, die hat noch viel mehr unter ihm gelitten, als wir uns alle vorstellen können«, sie machte eine Pause und sagte dann leise: »Irgendwie kann ich sie schon auch verstehen, die Paola. Sie ist bei ihm geblieben, hat nur gearbeitet, den alten Gasthof in Schwung gebracht, hatte nie ein richtiges Privatleben. Sie hat für ihn gesorgt, als er krank wurde, und dann zerstört er so mir nichts dir nichts ihren großen Lebenstraum …«
»Auch wenn die Paola und ich nicht gerade ein herzliches Verhältnis haben: In diesem Fall muss ich meiner klugen Frau zustimmen: Paola hatte wirklich am meisten unter dem Bernhard zu leiden, und der ganze geschäftliche Erfolg war dafür bestimmt kein Ausgleich. So richtig glücklich hat sie jedenfalls noch nie ausgeschaut.« Johannes betrachtete versonnen seinen Freund. »Außer vielleicht, als sie damals mit dir zusammen war, Schorsch.«
Unwillig schüttelte Angermüller den Kopf. Darüber wollte er jetzt am allerwenigsten reden.
»Was ich im Nachhinein ziemlich eigenartig finde«, mischte sich Rosi ein und ersparte ihm eine Antwort: »Warum hat ausgerechnet Paola dich gebeten, nach dem Mörder zu suchen, Schorsch?«
»Ist doch klar! Weil sie von ihrer Spur ablenken wollte!«, versetzte Johannes sofort.
Angermüller nickte nur. Auch dieses Thema traf einen wunden Punkt, mit dem er erst noch selbst ins Reine kommen musste.
Obwohl es ihn keineswegs zurück zu der Geburtstagsfeier zog, sagte er bald den Freunden Ade, denn sicherlich registrierte seine Mutter jede Minute seiner Abwesenheit, und er bekäme diesen Umstand noch jahrelang zum Vorwurf gemacht.
Im Victoria & Albert-Salon servierte man gerade den ersten Gang. Etwas lustlos begann Angermüller in der Fränkischen Hochzeitssuppe zu rühren, die vor ihm in einer Suppentasse dampfte. Ihr Duft war berauschend. Und wie so oft in vielen grauen Stunden, wenn er sich vom Leben arg gebeutelt fühlte, brachten ihn die feinen Speisen, die man in Steinleins Landgasthof auftischte, wieder ein Stück weit in seine Mitte. Die gehaltvolle Suppe, in der Leberknödel, Markknödel und Eierkuchenstreifen schwammen, schmeckte köstlich und wärmte ihm die Seele. Danach schmeichelte ein Rehbraten seiner Zunge, in dessen zartem Fleisch er die aromatischen Kräuter und Gräser des Waldes zu schmecken vermeinte. Die seidigen Coburger Klöße, die in der sämigen, tiefbraunen Soße ruhten, teilten sich wie von selbst unter seiner Gabel, und das Rotkraut, das dunkelviolett daneben glänzte, erfreute ihn mit seiner süßsäuerlichen Note und einem Hauch Gewürznelke. Gekrönt wurde das Festmahl von einem Dreierlei aus Süßspeisen: Goldbraun gebackene Arme Ritter in luftiger Weinschaumsoße, hausgemachtes Preiselbeereis und ein kleiner Coburger Mohrenkopf, dessen bittersüße Schokoladenhülle in herbem Kontrast zu der sanften Vanillesahne stand, konkurrierten um die Gunst von Angermüllers Gaumen. Ohne sich für einen Sieger entscheiden zu können, gab sich der Kommissar den süßen Verführungen mit allen Sinnen hin.
Während des Essens beschränkte sich die allgemeine Unterhaltung auf lobende Kommentare zu den genossenen Speisen. Auch danach war man nicht zum Tischgespräch verpflichtet, denn es folgten mehrere Festreden auf die Jubilarin. Eine Cousine hatte sich sogar als Marktfrau verkleidet und gab ein selbst verfasstes Gedicht auf ihre Tante im feinsten Fränkisch zum Besten. Angermüller und der Mord in der Felsengrotte waren zu seiner Erleichterung ein wenig aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Dann sprach auch er als Sohn ein paar launige, lobende Worte auf das Geburtstagskind und musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass seine Mutter tatsächlich so etwas wie Rührung zeigte.
Die Feier ging schneller vorbei, als er dachte. Als er um Mitternacht die Treppe zu seiner
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