Nebelsturm
kleine Bruchstücke vom Dachrand und fielen lautlos in die Schneewehen. Die Vögel kehrten zurück in das Vogelhäuschen vor dem Küchenfenster, und am frühen Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages wurde ihre Isolation vom Rest der Welt beendet, als ein Schneepflug aus Marnäs ihre Gegend erreichte. Er fuhr die Küstenstraße entlang, aber es sah so aus, als würde er sich durch ein weißes Meer schieben.
Joakim hatte sich als Ziel gesetzt, mit der Schneefräse die Strecke vom Hof bis zur Landstraße in einer Stunde freizulegen. Es dauerte zwar weit über zwei Stunden, aber danach war der Weg wieder befahrbar.
Joakim legte neue Batterien in seine Taschenlampe, verließ das Haus über die Veranda und machte sich auf den Weg zur Scheune. Die Treppe zum Heuboden war schwarz und verkohlt, aber es qualmte nicht mehr.
Sein Blick wanderte zur Stirnseite der Scheune. Joakim zögerte, näherte sich dann aber der Öffnung in der Zwischenwand und kroch unter den Holzbrettern hindurch.
Er richtete sich auf, machte die Taschenlampe an und horchte, ob aus dem verborgenen Raum Geräusche zu ihm drangen. Da nichts zu hören war, kletterte er die Leiter hinauf.
Durch die Ritzen in der Wand fiel ein fahles Sonnenlicht in den Andachtsraum.
Alles war still. Die Briefe und die Erinnerungsgegenstände lagen wie zuvor auf den alten Holzbänken, aber es saß niemand mehr dort.
Langsam ging er an den Bänken vorbei. Als er neben der vordersten Bankreihe stand, bemerkte er sofort, dass sowohl Katrines Weihnachtsgeschenk als auch Ethels Jacke noch an der gleichen Stelle lagen, wo er sie zurückgelassen hatte.
Aber das Geschenk war geöffnet worden. Die Klebestreifen hatten sich gelöst, und das Geschenkpapier war zur Seite geschlagen.
Joakim ließ es auf der Kirchbank liegen, er traute sich nicht nachzusehen, ob die grüne Tunika noch da war. Stattdessen nahm er zum ersten Mal Ethels Jeansjacke in die Hände – da spürte er, dass sich ein kleiner flacher Gegenstand in dem Stoff befand.
Joakim hatte die Jeansjacke in einer Plastiktüte verpackt, als Kommissar Göte Holmblad am zweiten Weihnachtsfeiertag zu Besuch kam.
Kurz zuvor hatten ein Krankenwagen und ein Abschleppwagen den Hof wieder verlassen und den toten Einbrecher und die gestohlenen Autos mitgenommen. Die Kriminalpolizei hatte nach Kugeln im Schnee gesucht. In den lokalen Nachrichten wurde über Tommy als einen von zwei Todesfällen während des Schneesturmes berichtet, ohne ihn jedoch namentlich zu erwähnen. Das Unwetter, das über Nordöland gewütet hatte, war bereits mit dem Namen »Weihnachtsnebelsturm« versehen worden, und man hatte es als einen der schlimmsten Schneestürme seit dem Zweiten Weltkrieg klassifiziert.
Holmblad stieg aus dem Auto und wünschte Joakim frohe Weihnachten.
»Danke, gleichfalls. Schön, dass Sie kommen konnten«, erwiderte er.
»Eigentlich habe ich noch bis zum Jahreswechsel Urlaub«, sagte Holmblad. »Aber ich wollte sehen, wie es Ihnen hier draußen ergangen ist.«
»Jetzt ist wieder Ruhe eingekehrt«, antwortete Joakim.
»Ja, das sehe ich. Der Sturm ist abgezogen.«
Joakim nickte.
»Was ist mit Tilda Davidsson … wie geht es ihr?«, fragte er.
»Den Umständen entsprechend«, sagte Holmblad. »Ich habe gestern mit ihr gesprochen … sie durfte das Krankenhaus verlassen und ist jetzt bei ihrer Mutter.«
»Aber sie war doch allein hier. Das war kein Kollege, der …«
»Nein«, sagte Holmblad, »das war ihr Lehrer auf der Polizeischule … ein Familienvater mit zwei Kindern, sehr tragisch. Er hätte sie eigentlich gar nicht begleiten dürfen.« Der Polizeichef nickte nachdenklich. »Für Davidsson hätte es natürlich auch noch viel schlimmer enden können, aber sie hat die Aufgabe hervorragend gemeistert.«
»Ja, das hat sie«, bestätigte Joakim und öffnete die Tür zum Haus. »Ich habe ein paar Dinge, die ich Ihnen gerne zeigen möchte – kommen Sie kurz mit rein?«
»Ja, selbstverständlich.«
Joakim führte den Polizeichef in die Küche.
»Hier«, sagte er und zeigte auf den Tisch.
Dort lagen die Tüte mit Ethels Jeansjacke und die Gegenstände, die er darin gefunden hatte. Da waren der handgeschriebene Zettel – und ein kleines goldenes Etui, das im Jackenfutter versteckt gewesen war.
»Was ist das?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Joakim. »Aber ich hoffe, es sind Beweisstücke.«
Nachdem Holmblad wieder gefahren war, nahm Joakim seinen Rucksack und stapfte durch den Schnee zu dem
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