Nebelsturm
einigen Polaroidaufnahmen und einem großen, braunen Paket zurück.
»Es hat einen Moment gedauert, bis ich die Kamera gefunden habe«, entschuldigte sie sich.
Sie reichte Joakim die Fotos.
Er nahm sie entgegen und erkannte Nahaufnahmen von Katrines Gesicht, zwei frontal, zwei von der Seite. Ihre Augen waren geschlossen, aber Joakim konnte sich nicht einreden, dass sie nur aussah, als würde sie schlafen. Ihre Haut war weiß und leblos, und sie hatte auf Stirn und Wange Schürfwunden.
»Sie ist verletzt«, bemerkte er tonlos.
»Das ist beim Sturz geschehen«, erklärte die Ärztin. »Sie muss auf den Steinen der Mole ausgerutscht sein und sich gestoßen haben, bevor sie ins Wasser fiel.«
»Aber ist sie … ertrunken?«
»Todesursache war Hypothermie … ein Kälteschock. In dieser Jahreszeit hat die Ostsee weniger als zehn Grad«, erläuterte sie. »Sie muss Wasser eingeatmet haben, als sie hineinstürzte.«
»Aber sie ist ins Wasser gefallen«, wiederholte Joakim. »Warum ist sie denn gefallen?«
Darauf bekam er keine Antwort.
»Hier sind ihre Kleidungsstücke«, sagte die Ärztin stattdessen und reichte ihm auch das braune Paket. »Und Sie sind sich sicher, dass Sie sie nicht sehen wollen?«
»Ja.«
»Sie wollen keinen Abschied nehmen?«
»Nein.«
In der Woche nach Katrines Tod brachte Joakim die Kinder jeden Abend ins Bett. Sie hatten zwar viele Fragen und wollten wissen, warum Katrine nicht zu Hause war, aber nach einer Weile gaben sie Ruhe und schliefen doch ein.
Joakim legte sich in das Doppelbett und starrte an die Decke, stundenlang. Aber wenn er dann endlich einschlief, fand er trotzdem keine Ruhe. Jede Nacht wiederholte sich derselbe Traum.
Er träumte, dass er nach Jahren der Abwesenheit nach Åludden zurückgekehrt war. Über ihm hing der graue Himmel. Er stand am Strand bei den Leuchttürmen und machte sich auf den Weg hinauf zum Hof. Er sah verlassen und verfallen aus. Regen und Schnee hatten die rote Farbe abgespült, das Haus war hellgrau.
Die Fenster der Veranda waren eingeschlagen, und die Tür stand einen Spalt offen. Im Inneren war es stockdunkel.
Die länglichen, steinernen Treppenstufen, die zur Veranda führten, waren abschüssig und rissig. Vorsichtig ging Joakim hinauf und betrat die Dunkelheit.
Er schauderte und sah sich angestrengt im Innern um. Auch hier war alles so verfallen wie draußen, die Tapeten waren heruntergerissen, der Boden bedeckt mit Kies und Staub, alle Möbel waren weg. Von den vielen Renovierungsarbeiten, mit denen Katrine und er begonnen hatten, war nichts mehr zu sehen.
Aus den Zimmern drangen Geräusche zu ihm.
Aus der Küche hörte er murmelnde Stimmen und scharrende Stuhlbeine.
Joakim lief den Gang entlang und blieb an der Türschwelle stehen.
Am Küchentisch saßen Livia und Gabriel und spielten Karten. Seine Kinder waren zwar noch klein, aber ihre Gesichter waren um Augen und Mund überzogen von einem Netz aus feinen Falten.
Ist Mama zu Hause? , fragte Joakim.
Livia nickte.
Sie ist in der Scheune.
Sie wohnt auf dem Dachboden in der Scheune , fügte Gabriel hinzu.
Joakim nickte und verließ die Küche. Seine Kinder blieben schweigend sitzen.
Er ging hinaus, über den mit Gras bedeckten Innenhof und schob das Tor zur Scheune auf.
Hallo? , rief er hinein.
Niemand antwortete, aber er betrat dennoch das Gebäude.
Vor der steilen Holztreppe, die hinauf zum Dachboden führte, blieb er stehen. Dann stieg er die kalten und feuchten Stufen hoch.
Oben angekommen, sah er keinen einzigen Strohhalm, auf dem Holzfußboden waren nur Wasserpfützen.
Katrine stand mit dem Rücken zu ihm an der Stirnseite des Dachbodens. Sie trug ihr weißes Nachthemd, das allerdings vollkommen durchnässt war.
Frierst du nicht? , fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, ohne sich zu ihm umzudrehen.
Was ist unten am Strand geschehen?
Frag nicht , erwiderte sie und versank fast unmerklich in den Ritzen im Fußboden.
Joakim ging auf sie zu.
Mam-ma? , rief eine Stimme von weit her.
Livia ist aufgewacht , sagte Katrine. Du musst dich um sie küm mern, Kim.
Mit einem Ruck wachte Joakim auf.
Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, war kein Traum. Es war Livia, die rief.
»Mam-ma?«
Er öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit, blieb aber liegen. Allein.
Das Rufen war verstummt.
Der Wecker neben seinem Bett zeigte die Uhrzeit an: Es war Viertel nach drei. Joakim war sich sicher, dass er nur wenige Minuten geschlafen hatte – und dennoch hatte sich der
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