Nebelsturm
waren.
»Wohnen noch andere auf Ihrem Hof?«, fragte sie.
»Nein«, war die knappe Antwort.
Er fragte nicht, was sie damit meinte, und Tilda wollte auch nichts erklären.
Nach wenigen hundert Metern erreichten sie einen Kiesweg, der direkt zum Bauernhof führte. Sie passierten ein Silo und eine Reihe von Traktoren. Es roch nach Gülle, und aus einer dunklen Scheune am anderen Ende des Bauernhofs drang das Muhen der Milchkühe.
Sie standen vor dem Backsteinhaus der Familie Carlsson. Eine schwarze Katze erhob sich von der Eingangstreppe und schlich um die Ecke. Westin stellte eine weitere Frage:
»Wer hat sie denn gefunden … war es Katrine?«
»Nein«, sagte Tilda. »Ich glaube, eine der Kindergärtnerinnen war es.«
Joakim Westin drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an, als würde er kein Wort verstehen.
Später wusste sie, dass sie sich länger mit ihm hätte unterhalten müssen. Stattdessen klopfte sie gegen die Glasscheibe der Eingangstür.
Es dauerte einen Augenblick, dann erschien eine blonde Frau in Kleid und Strickjacke und öffnete ihnen. Es war Maria Carlsson.
»Hallo, kommen Sie herein«, sagte sie leise, »ich gehe sie wecken.«
»Lassen Sie Gabriel ruhig schlafen«, bat Joakim sie.
Maria Carlsson nickte und zeigte ihrem Besuch den Weg. Sieführte sie in einen großen Raum, eine Mischung aus Wohn- und Esszimmer. In den Fenstern standen Kerzen, und aus einer Stereoanlage erklang gedämpfte Flötenmusik.
Maria Carlsson verschwand in einem Nebenzimmer, und nach einer Weile erschien sie wieder, mit einem kleinen Mädchen an der Hand.
Es trug Hosen und einen Pullover, hatte ein Kuscheltier fest unter den Arm geklemmt und sah sich mit verschlafenen Augen um. Als es aber sah, wer da im Zimmer stand, hellte sich sein Blick auf, und es lächelte.
»Hallo, Papa!«, rief sie und sprang auf ihn zu.
Die Tochter wusste ganz offensichtlich nicht, was passiert war. Niemand hatte ihr erzählt, dass ihre Mutter ertrunken war.
Umso merkwürdiger war die Reaktion des Vaters. Joakim Westin stand wie erstarrt im Raum und ging nicht auf seine Tochter zu.
Tilda drehte sich zu ihm um und bemerkte, dass er nicht mehr angestrengt aussah, sondern ängstlich und verwirrt – geradezu gelähmt vor Entsetzen.
Joakim Westins Stimme war voller Panik.
»Aber das hier ist doch Livia!«, sagte er und sah Tilda an. »Und Katrine? Meine Frau, wo … wo ist Katrine?«
NOVEMBER
6
J oakim saß auf einer Holzbank vor einem niedrigen Gebäude des Kreiskrankenhauses von Kalmar und wartete. Es war kalt, aber die Sonne schien. Neben ihm saß ein junger Krankenhauspfarrer in einer blauen Winterjacke, eine Bibel in den Händen. Keiner der beiden sagte ein Wort.
In dem Gebäude befand sich ein Raum, in dem Katrine auf ihn wartete. Neben der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift ABSCHIEDSRAUM.
Aber Joakim weigerte sich, ihn zu betreten.
»Ich hätte gerne, dass Sie hineingehen und sie sich ansehen«, hatte die Assistenzärztin bei der Begrüßung gesagt. »Wenn Sie es schaffen.«
Joakim hatte den Kopf geschüttelt.
»Ich kann Ihnen genau beschreiben, was Sie dort sehen werden«, war die Assistenzärztin fortgefahren. »Es ist sehr würdevoll, mit gedämpftem Licht und Kerzen. Die Verstorbene liegt auf einer Bahre unter einem Tuch, das …«
»… das Körper und Gesicht vollkommen bedeckt«, hatte Joakim sie unterbrochen. »Ich weiß.«
Er wusste es, weil er vor einem Jahr Ethel in einem solchen Abschiedsraum gesehen hatte. Aber er wollte Katrine so nicht sehen. Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
Die Assistenzärztin hatte schließlich aufgegeben und kurz genickt.
»Warten Sie dann bitte kurz hier. Es dauert einen Augenblick.«
Sie war zurück ins Gebäude gegangen, und Joakim hatte sich in die schwache Herbstsonne gesetzt und gewartet, den Blick in den blauen Himmel gerichtet. Der Krankenhauspfarrer rutschte unruhig auf der Bank hin und her, als wäre ihm das Schweigen unerträglich.
»Waren Sie lange verheiratet?«, fragte er.
»Sieben Jahre«, antwortete Joakim. »Und drei Monate.«
»Haben Sie Kinder?«
»Zwei. Einen Jungen und ein Mädchen.«
»Kinder sind auch sehr willkommen im Abschiedsraum«, fügte der Pfarrer leise hinzu. »Das kann wichtig für sie sein … um ihren Lebensweg fortsetzen zu können.«
Erneut schüttelte Joakim den Kopf.
»Das will ich ihnen nicht zumuten.«
Wieder senkte sich das Schweigen über die beiden. Nach geraumer Zeit kehrte die Assistenzärztin mit
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