Nebelsturm
Polizistin gewesen war, Wohnungen ohne Heizung, in denen die Menschen gehaust hatten wie die Ratten.
Hof Åludden war kein Ort, an dem Tilda gerne wohnen würde, schon gar nicht im Winter. Er war ihr viel zu groß. Der Strand war bestimmt ein Traum, wenn die Sonne schien, aber jetzt gegen Abend wurde die Abgeschiedenheit beängstigend. Marnäs mit einer einzigen Einkaufsstraße wirkte geradezu wie eine Großstadt, verglichen mit der Einsamkeit auf Åludden.
Sie ließ das Licht brennen, trat hinaus auf die Veranda und öffnete die Tür zum Innenhof.
Eine feuchte Kälte drang herein. Auf dem Hof brannte nur eine einzige Lampe, eine Glühbirne unter einer gesplitterten Glasglocke, die ein gelbes Licht auf die Steinplatten und die vereinzelten Grasbüschel warf.
Tilda stellte sich in den Windschatten an der großen Scheunenwand neben einen Haufen aus feuchtem Laub und holte ihr Handy hervor. Sie wollte so gerne eine andere Stimme hören. Das verabredete Telefonat mit Martin war wegen des Zwischenfalls nicht zustande gekommen, und nun war es viel zu spät – er war schon längst nach Hause gefahren. Stattdessen wählte sie die Nummer von den Nachbarn der Westins, Familie Carlsson. Frau Carlsson nahm den Hörer schon nach zwei Klingelzeichen ab.
»Wie geht es den beiden?«, erkundigte sich Tilda.
»Ich habe gerade nachgesehen, sie schlafen jetzt«, sagte Maria Carlsson mit leiser Stimme. »Sie liegen in unserem Gästezimmer.«
»Das ist gut. Wie lange werden sie heute noch wach bleiben? Ich wollte gerne mit Joakim Westin nachher zu Ihnen kommen. Aber ich erwarte ihn frühestens in drei oder vier Stunden.«
»Kommen Sie einfach vorbei, wenn er da ist. Roger und ich bleiben so lange wach, wie es notwendig ist.«
Kaum hatte Tilda aufgelegt, überkam sie die Einsamkeit erneut.
Mittlerweile war es halb neun. Sie überlegte kurz, nach Marnäs zu fahren und sich noch ein bisschen auszuruhen, aber das Risiko, dass Herr Westin oder jemand anders anrufen könnte, war zu groß.
Sie ging durch die Veranda zurück ins Haus.
Dieses Mal wählte sie den kurzen Korridor und blieb an der Türschwelle eines der Schlafzimmer stehen. Es war ein kleines, sehr gemütliches Zimmer, wie eine hell erleuchtete Kapelle in einem dunklen Schloss. Die Tapeten waren gelb mit roten Sternen, und auf kleinen Holzstühlen entlang der Wand saßen mindestens ein Dutzend Stofftiere.
Das war mit Sicherheit das Zimmer der Tochter.
Vorsichtig betrat Tilda den Raum und stellte sich auf den Teppich, der in der Mitte des Zimmers lag. Sie nahm an, dass die Eltern die Kinderzimmer zuerst eingerichtet hatten, damit sich die beiden so schnell wie möglich zu Hause fühlen würden. Sie erinnerte sich an ihr Kinderzimmer in der kleinen Mietwohnung in Kalmar, das sie sich mit einem ihrer Brüder hatte teilen müssen. Immer hatte sie sich nach einem eigenen Zimmer gesehnt.
Das Bett war kurz, aber breit. Darauf lagen eine gelbe Tages decke sowie massenweise flauschige, bunt bedruckte Kissen: Elefanten und Löwen, die Nachthauben trugen und in kleinen Bettchen schliefen.
Tilda setzte sich auf das Bett. Es quietschte, war aber schön weich.
Sie umgab eine vollkommene Stille.
Sie sank zurück in den Kissenberg und ließ ihren Blick zur Decke wandern. Wenn man seinen Gedanken freien Lauf ließ, wurde die weiße Decke zu einer Kinoleinwand, auf der man seine Erinnerungen ansehen konnte.
Tilda sah Martin an der Decke, so wie er das letzte Mal schlafend neben ihr im Bett gelegen hatte. Fast einen ganzen Monatwar das her, in ihrer alten Wohnung in Växjö. Sie wünschte sich so sehr, dass er sie bald besuchen kommen würde.
Nirgendwo fühlt man sich so warm und geborgen wie in einem Kinderzimmer.
Sie atmete tief und gleichmäßig und schloss die Augen.
Wenn du nicht zu mir kommst, dann komme ich eben zu dir …
Tilda setzte sich mit einem Ruck auf, mitten in einem Atemzug und wusste nicht, wo sie war. Ihr Vater war bei ihr, sie hatte seine Stimme gehört.
Sie öffnete die Augen.
Nein, das konnte nicht sein, ihr Vater war tot, er war bei einem Autounfall vor elf Jahren ums Leben gekommen.
Tilda blinzelte, sah sich im Zimmer um und begriff, dass sie eingeschlafen sein musste.
Sie erkannte den Geruch von frisch geschliffenem Holz, sah die weiß gestrichene Decke über sich und wusste dann, dass sie auf einem Kinderbett auf Hof Åludden lag. Sofort tauchte das Bild von fließendem Wasser auf – Wasser, das aus der Kleidung der Toten am Strand geströmt
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