Nebelsturm
er.
Er hatte in zwanzig Minuten einen Termin im Bestattungs institut von Borgholm, deshalb wandte er sich zur Tür. Aber Marianne kam auf ihn zu.
»Das verstehe ich«, sagte sie, »das tun wir hier alle.«
»Spricht sie?«, fragte Joakim und nickte Richtung Spielzimmer.
»Livia? Ja, sie …«
»Ich meine, spricht sie über ihre Mutter?«
»Nicht besonders viel. Und wir auch nicht. Oder sagen wir …« Marianne verstummte kurz und fuhr dann fort: »Wenn es für Sie in Ordnung ist, verhält sich das Personal Ihrer Tochter gegenüber nicht anders als zuvor. Sie wird wie alle anderen Kinder in der Klasse behandelt.«
Joakim nickte als Antwort.
»Wenn Sie es nicht ohnehin schon erfahren haben … ich war diejenige, die Ihre Frau gefunden hat«, berichtete Marianne.
»Ach ja.«
Joakim hatte keine weiteren Fragen, aber sie redete weiter, als würde sie ihre Geschichte loswerden müssen:
»An dem Tag waren nur noch Livia und Gabriel da … es war schon nach fünf, und keiner hatte sie abgeholt. Und niemand ging ans Telefon, deshalb habe ich mich ins Auto gesetzt und bin nach Åludden gefahren. Die Kinder stürmten sofort ins Haus, es stand offen … aber der Hof war verlassen und still. Ich schaute mich draußen um, und da habe ich unten im Wasser einen roten Fleck gesehen, bei den Leuchttürmen. Eine rote Jacke.«
Joakim hörte ihr zwar zu, stellte sich aber gleichzeitig vor, wie wohl Mariannes Schädel unter ihrer dünnen Haut aussehen mochte. Sie hatte einen sehr schmalen Schädel, vermutete er, mit hohen, weißen Wangenknochen.
Sie war noch nicht fertig:
»Zuerst habe ich die Jacke gesehen und dann die Hosenbeine … und da begriff ich, dass dort ein Mensch im Wasser lag. Ich habe sofort die Notrufzentrale informiert und bin dann hinunter zum Strand gerannt. Aber ich habe gleich gesehen, dass … es zu spät war. Es ist alles so unwirklich, ich hatte am Tag davor doch noch mit ihr gesprochen.«
Marianne senkte den Blick und verstummte.
»Und sonst war niemand da?«
»Wie meinen Sie das?«
»Waren die Kinder unten am Wasser? Haben sie Katrine gesehen?«
»Nein, die waren im Haus. Ich habe sie später zu den Nachbarn gebracht. Sie haben nichts gesehen.«
»Gut.«
»Kinder leben in der Gegenwart, sie arrangieren sich schnell mit einer neuen Situation«, erklärte Marianne. »Sie … sie vergessen schnell.«
Während Joakim zum Auto ging, war er sich einer Sache ganz gewiss: Livia sollte Katrine niemals vergessen.
Auch er dürfte das niemals. Katrine zu vergessen wäre unverzeihlich.
WINTER 1884
In jenem Jahr erlosch die Flamme im Nordturm von Åludden. Soweit ich weiß, wurde sie nie wieder angezündet.
Ragnar Davidsson jedoch erzählte mir, dass er ab und an leuchtet – in der Nacht vor einem Todesfall.
Vielleicht ist das ein altes Feuer, das im Leuchtturm aufflackert. In Gedenken an ein schweres Unglück.
Mirja Rambe
Zwei Stunden nach Sonnenuntergang erlischt die Flamme im Nordturm von Åludden.
Es ist der sechzehnte Dezember 1884. Das Unwetter, das im Laufe des Nachmittags über die Insel gezogen ist, hat seinen Höhepunkt erreicht. Das Donnern des Windes und der brechenden Wellen übertönt alle anderen Geräusche bei den Leuchttürmen.
Der Leuchtturmwärter Mats Bengtsson ist unterwegs zum südlichen der beiden Türme, sonst hätte er niemals das Haus verlassen. Er versucht durch den dichten Schneefall seinen Weg zum Strand zu finden. Er sieht sofort, dass etwas geschehen ist. Der Südturm blinkt wie sonst auch, aber das nörd liche Licht nicht – es ist erloschen, als hätte es jemand wie eine Kerze ausgepustet.
Ungläubig starrt Bengtsson zum Turm hinauf. Dann macht er auf dem Absatz kehrt, läuft über den Innenhof und stürmt die Treppe zum Wohngebäude hinauf. Er reißt die Eingangstür auf und schreit:
»Die Flamme ist aus! Der Nordturm brennt nicht mehr!«
Bengtsson hört jemanden aus der Küche eine Antwort rufen, vielleicht ist es seine Frau Lisa, bleibt aber nicht in der Wärme, sondern stürmt zurück in den Nebelsturm.
Das Stück über die Strandwiese läuft er tief gekrümmt, er ist gezwungen, sich gegen den Wind zu stemmen; es fühlt sich an, als würde der arktische Wind durch ihn hindurchwehen.
Der Leuchtturmassistent Jan Klackman hat seit vier Uhr Schicht und hält allein Wache im Nordturm. Bengtsson weiß, dass sein bester Freund Hilfe benötigt, um die Flamme wieder zu entfachen.
Kurz vor dem Winteranfang hatten sie ein Seil an einer Reihe von
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