Neben Der Spur
sofort antreten.
»Okeydokey«, murmelt Karo und drückt sich beide Daumen. Ein letzter Mausklick, dann geht sie ab, die Gerne-Online-Bewerbung.
Ob man schon einmal so einen kalten Sommer erlebt hat, so einen verregneten? Das fragen sie ein ums andere Mal. Heute wieder. Seltsam, dass sie immer vom Wetter reden, wenn du in der Nähe bist, Hermann. Dann willst du ihre Frage aufgreifen und sagen, dass es auch früher solche Sommer gab – früher solche Sommer gab. Und willst vom Juli 1919 erzählen, als es nachts so kalt wurde, dass unsere Mutter die Federbetten vom Dachboden holen musste, weil unser Vater die Grippe bekam. Der musste dann Lindenblütentee trinken, Wadenwickel ertragen und war zwei Wochen lang derart schwach, dass er seine Kinder nicht schlagen konnte. So gesehen hätte es eine schöne Zeit für uns werden können.
Doch wir mussten damals, wie manchmal im Sommer, die Rüben auf den Äckern verziehen, wobei wir Kinder von Eden die Feldarbeit unbekleidet verrichteten, wie die Freikörperkultur es propagierte. Sich nackt in Sonne und Regen, bei Hitze oder frischem Wind zu ertüchtigen, sollte ›unseren Geist erwecken‹. Was immer das bedeutete. Sollten wir damals schon »flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl geraten?« Niemand kannte zu jener Zeit schon den Hitler-Spruch. Und doch glaube ich manchmal, wir wurden danach erzogen.
Jedenfalls krochen wir, uns weidlich voreinander schämend, durch die Furchen über den kalten, pitschnassen Lehmboden, zogen mit klappernden Zähnen und klammen Fingern die zu mickrigen Pflänzchen aus der Erde, weil sie das Wachstum der starken Pflanzen nur behinderten, angewidert von den vielen Regenwürmern, die sich in den Beeten ringelten. – Ja, so kalt und so nass war der Juli 1919.
Aber das wollen sie heute gar nicht wissen. Sie fragen dich wohl nach früheren kalten Sommern, aber sie hören dir nicht zu, sagen »ja, ja« und »ach so«, blicken derweil konzentriert in die Luft, als sei dort ihre Agenda für den Tag notiert. Nur der liebe kleine Vali lauscht, wenn du diese Dinge erzählst. Und er kann verstehen, wie es dir damals ergangen ist, auch wenn er niemals Rüben verziehen musste und obwohl es ihm kein bisschen vor Regenwürmern graust.
Weißt du noch, Hermann, der Aufseher, der Baldus hieß und eine große Zahnlücke hatte, durch die er pfeifen konnte? Wie er uns mit einem Feldstecher beobachtete, angeblich, um unsere Arbeit zu überwachen. Ab und an pfiff er laut, um uns anzufeuern. Wir dachten uns nichts dabei, denn obwohl wir nicht immer gewissenhaft arbeiteten, hatte er nie etwas auszusetzen. An einem Abend aber sollten wir uns, bevor wir nach Hause gehen durften, am Pumpbrunnen waschen, die Erde gründlich von unseren Körpern abrubbeln. Auch dabei beobachtete er uns, wie wir vor Kälte schlotterten und pfiff dazu – und pfiff dazu … Dann sollten wir uns in einer Reihe aufstellen, damit er prüfen könne, ob wir auch sauber seien.
Plötzlich kam unsere Frau Mama angelaufen, mit der kleinen Heidemarie in einer Kiepe auf dem Rücken. Weißt du noch, Hermann? Sie rief ihre beiden Buben zu sich, warf jedem eine Wolldecke über und zerrte uns nach Hause. Den Aufseher schrie sie an, er solle mal selbst unters kalte Wasser, um sein Mütchen abzukühlen. Ja, so nannte sie es, sein Mütchen abkühlen.
Dem kleinen Vali sollte ich die Geschichte vielleicht erzählen. Der ist alt genug, um zu wissen, dass es solche Menschen gibt. Dass es böse Menschen gibt, die aus Gewissenlosigkeit oder Lust Kinder quälen. Ja, das sollte ich Valentin einmal erklären. Aber er ist nicht da, macht einen Ausflug, haben sie gesagt. – Bei dem Wetter?
Die Hupe! Einmal kurz. Dann Pause. Einundzwanzig, zweiundzwanzig … zehn Sekunden Pause. Und noch mal die Hupe. Das ist das Zeichen! So haben sie es ausgemacht.
Valentin springt auf, hechtet zum nördlichsten Fenster, schwenkt seine Baseballkappe dicht vor der Scheibe hin und her. Auch das ist so abgesprochen. Jetzt weiß Rolf, dass Valentin ihn gehört hat und runterkommt.
Endlich kann er hier raus! Er greift seinen Rucksack, rollt seinen Schlafsack zusammen und schnallt ihn an dem Gepäckstück fest, greift rasch die Plastiktüte mit dem Abfall, die Gassi-geh-Tüten mit seinem Stuhlgang. Alles muss entsorgt werden. Er soll möglichst wenig Spuren hinterlassen, am besten gar keine, hat Rolf gesagt. Dann hechtet Valentin die Treppe hinunter, zwanzig Stockwerke, dreihundertundsechzig rohe Betonstufen,
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