Neben Der Spur
Abend hab ich Zeit. Willst du mit mir was trinken gehen?«
»In die Dorfkneipe?«
»Ich dachte eher an eine nette kleine Straußenwirtschaft. Und hinterher ins Kino. Da läuft ein neuer Film mit Cameron Diaz.«
»Und mit Justin Timberlake!« Karo verbirgt ihre garantiert knallrote Birne rasch hinter einem aufgeklappten Ordnerdeckel. »Okay«, sagt sie.
Großes Kino war das. Erst im Film und dann im Bett. Rick hatte alle Farben Präservative und sämtliche Geheimnisse des Kamasutra parat. Nix und niemand kann Karo am nächsten Morgen ernüchtern, weder der eisgraue Himmel noch Bärbel Frieds ganzheitliche Gymnastikkommandos. Widerspruchslos sortiert sie de Beers Ablage, beantwortet aggressive Kundenmails mit werblichen Floskeln, während ihr komplettes Inneres abdriftet, sie Ricks Glied in sich spürt, was sie nachträglich schier noch mal in Extase versetzt.
Angesichts ihrer Gesichtsblässe mutiert de Beer zum Gesundheitsberater, referiert, dass mit niedrigem Blutdruck nicht zu spaßen sei und spendiert eine große Tasse Milchkaffee aus der Kantine, die sie ausnahmsweise dankbar annimmt.
Erst als sie gegen elf Uhr ins Archiv entlassen wird, setzt der Plan, einem Naziverbrechen auf die Spur zu kommen, endlich wieder die linke Gehirnhälfte in Gang. Wer war Helmut Hepp? Was hat er angerichtet? Und vor allem: Wo ist er abgeblieben?
Der Verschlag hinter der Gittertür hat auf den ersten Blick wenig Spannendes zu bieten: uralte Geburts-, Hochzeits- und Todesanzeigen der weitverzweigten Hepp-Dynastie, die offenbar von jeher eine Vorliebe für alliterierende Vornamen hegte. Da paradieren Hartmut, Hermine, Hiltrud, Horst, Hoimar und Heinrich Hepp, alle mitsamt Taufschein sowie den Rechnungen über ihre Beerdigungskosten. Zwei leere Regalbretter darunter füllen Arzthonorarabrechnungen eines gewissen Dr. Trieb für Hermann, Helmut und Heidemarie die Ordner.
Karo wühlt weiter, findet Belege über Fassaden- und Dachreparaturen am Wohnhaus, Quittungen über Ankäufe oder Veräußerungen von nicht näher definiertem Goldschmuck, zweier Porzellanengel sowie eines Feh- und eines Persianermantels … alles aus den Jahren 1930 bis 1940. Im untersten Regal kauert eine verbeulte Margarinekiste, diesmal von der Marke Sanella. Karo lüftet den Deckel, findet mehrere Büchlein in marmorierter Pappe und mit ornamental umrandeten Aufklebern auf der Vorderseite. Schwarze Serifen verkünden: Dies ist das Haushaltsbuch von … Darunter ist säuberlich per Hand ein Name in Sütterlinschrift eingefügt, den Karo nicht lesen, sich aber auf Anhieb erschließen kann: Luise Hepp, die Mutter des Seniors. Im Innern linierte Seiten mit einem roten Strich längs durch die Mitte wie bei Vokabelheften.
Karo erkennt Wörter wie Soll und Haben, das Reichsmark-Zeichen, das alte Pfund, jede Menge Ziffern. Nicht immer scheint es um Buchführung zu gehen. Eingestreut sind ganze Sätze samt Kommata, Punkten und Ausrufezeichen. Sehr vielen Ausrufezeichen.
Aber die vielen Wörter drum herum? Lauter eckige Buchstaben flirren vor Karos Augen, überall scheint Rick Rick Rick zu stehen. Und wo gar nichts steht, scheinen seine Augen, seine Lippen, seine Hände wie Hologramme eingefügt. Karos Stammhirn hat offenkundig wieder die Regie in ihrem Kopf übernommen. Ist ja grausam, wie verknallt sie ist! Ihre Schoß zieht sich zusammen, ein prickelnder Schmerz klettert herauf bis in die Brust, die Augendeckel sinken auf Halbmast. Eine zweite Tasse Milchkaffee und damit weitere achtzig bis hundert Kalorien werden fällig.
Beim Entziffern der Sütterlinschrift helfen die allerdings nicht. Mühselig erschließt sich Karo einzelne Wörter wie Kind, Milch und Arzt, der Zusammenhang bleibt unverständlich. Aber für investigativ arbeitende Journalistinnen wie Karo kann Sütterlin kein Problem sein! Bestimmt findet sie im Internet eine Leseanleitung. Andererseits – was soll in Luise Hepps Haushaltsbüchern schon anderes stehen als Gejammer über ranzige Butter und zu kleine Kartoffeln?
Karo wühlt weiter, findet am Boden der Margarinekiste eine flache Pappschachtel, illustriert mit einem Pfoten leckenden Kätzchen samt rosa Schleife um den Hals. Katzenzungen verraten geschwungene rosarote Buchstaben. Karo schaudert es. Was früher nicht alles als Delikatesse galt! Mit spitzen Fingern hebt sie den Deckel der Kiste an, späht hinein, atmet auf. Erst vor Erleichterung, dann vor Entdeckerfreude: Da lagert ein wohlbehaltenes Dutzend alter Schwarz-Weiß-Fotos mit
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