Neben Der Spur
einzigen Blick erfasst Karo, wie rote Flecken den sehnigen Hals masern. Sie muss verdammt noch mal sofort das Thema wechseln, bevor er einen Herzinfarkt kriegt. »Und dies ist sicher Ihre Schwester Heidemarie?« Karo stippt mit dem Finger auf ein kess dreinblickendes Mädchen mit blondem Flechtekranz um die Stirn.
Er nickt stumm.
»Sie ist Gudrun Hepps Mutter«, schätzt Karo, obwohl die junge Frau wenig an die Chefin, dafür an die kleine Tischhockerin auf dem Familienfoto erinnert.
Der Senior nickt wieder. Straff aufrecht sitzt er wie immer in seinem Rollstuhl, doch die Schultern sacken herab. Er murmelt etwas von seinem Freund Werner Kollath und natürlicher Nahrung, bricht ab, legt eine Hand vor die Stirn, als habe er Schmerzen. Schweigt.
»Ist Ihnen nicht gut, Herr Hepp?«
»Doch, doch!« Er lässt die Hand sinken, seine Schultern nehmen wieder Form an. Er wolle nicht unhöflich erscheinen, erklärt er, aber er sei etwas müde und würde sich gern hinlegen. Das Fräulein Karola möchte ihn bitte für heute entschuldigen.
Karo reicht ihm die Hand und macht, dass sie wegkommt. Klammheimlich hat sie eins der Fotos behalten. Sie betrachtet es, während sie den Tag mit einem gekochten Ei und einer Grapefruitsaftschorle beschließt. Auch dieses Bild zeigt die Wandertruppe. Mittendrin die schöne Rosa Blum, wie sie ihre Arme um einen der Hepp-Brüder schlingt und die Lippen spitzt, als wollte sie ihn im nächsten Moment küssen. Es ist der Dunkelhaarige. Es ist Hermann Hepp.
Es sind nur ein paar Fotografien. In verblasstem Sepia, modrig riechend, der gezackte Weißrand abgegriffen und manchmal eingerissen … Und doch flanieren schon wieder die alten Gespenster zwischen Traum und Halbschlaf herum, als wäre dein armes seniles Hirn ihre rechtmäßige Behausung. Und wenn du still daliegst, dann hörst du, wie sie lachen, singen, unsere Namen rufen.
»Hermann, wo steckst’n? Willste an so ei’m schön’n Sonntag wieder am Herd stehn wie unsre Küch’nmamsell?«
Hast du gehört? Die tenorhelle Stimme mit dem nuschelnden Unterton? Joachim. Rosas Bruder Joachim. Er trug an Sommersonntagen wie heute ein reinweißes Hemd aus Kunstseide, das ihm zu groß war. Denn als er die Universität verlassen und bei Erdal schwitzen musste, da magerte er ab wie ein Schwindsüchtiger – da magerte er ab wie ein Schwindsüchtiger. Damit es weniger auffiel, wrang er sein Sonntagshemd in der Taille zusammen und stopfte es in seine sandgraue Hose. Dazu trug er gern eine Schildmütze, die er schief in die Stirn zog, sodass sie die Blicke der Damenwelt direkt auf seine moorbraunen Augen lenkte. Ja, er war eitel und so manche Frau machte er verrückt.
Da war diese Blonde mit dem Puppengesicht aus Saulheim. Helga hieß sie. Weißt du noch, wie sie um Joachim herumscharwenzelte, ihn neckte, bis es ihm zu viel wurde? Da überzog er sie mit einem Schwall jiddischer Vokabeln, verkündete, dass er anderntags werde »malochen« müssen und dass er immer »Zoff« mit dem Vorarbeiter habe, der völlig »meschugge« sei. Haha, wie die Puppenäuglein sich da verengten. Alle vom Jiddischen abgeleiteten Wörter waren verpönt, wenn nicht verdächtig. Selbst solche, die uns jahrzehntelang geläufig waren. Joachim tat, als sei nichts dabei, steckte sich eine Zigarette an und blies Kringel in die Luft. Rosa aber ritt der Teufel. Sie zerstreute jedweden Zweifel dieser Helga im Nu mit der Bemerkung, dass sie am Vortag in der Synagoge ihr Silberkettchen verloren habe und noch einmal hingehen müsse, um es zu suchen. »Och«, rief Joachim, »das echt silberne mit’m Davidstern?« Da verwandelte sich das Puppengesicht in eine Schweinsfratze, eine hässliche kleine Schweinsfratze. Und weg war es, das Fräulein aus Saulheim, ließ sich nie wieder blicken.
Solche Weiber wären ihm sowieso zu ungebildet, sagte Joachim dann. Er würde nur eine heiraten, die wie er studiert hätte … War ein lieber Kerl. Aber ein bisschen großspurig. Da, schau ihn dir an, auf der Fotografie, wie er das Kinn hebt, den Betrachter anlächelt, die linke Augenbraue spöttisch hochgezogen. – Auch sein Vergleich von dir mit einer Küchenmamsell hatte etwas Großspuriges. Die Blums hatten längst kein Personal mehr. Joachim tat gern, als sei alles wie früher … »Du gibst an, wie ’ne Tüte Mücken, Joachim«, tadelte Rosa andauernd. Ja, ›wie eine Tüte Mücken‹, sagte sie. Es war so eine Redewendung damals.
Und da links, schau, da ist Wolfgang. Es tut immer noch weh,
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