Neben Der Spur
Haushaltsbücher. Die Haushaltsbücher waren das Einzige, was der Vater nicht kontrollierte. Er wäre sich wie ein Geizknochen vorgekommen dabei, denn sie ging sorgsamer mit Geld um als jede andere Frau in Eden. Der Vater hatte sich beim Abendessen erregt, weil die Milch sauer geworden war und wir Kinder sie nicht mehr trinken mochten. Erst schalt er die Mutter, die besser darauf achten solle, dass die Milch nicht verderbe. Dabei war die Sommerschwüle schuld gewesen, denn die Milch hatte keineswegs offen in der Küche gestanden, sondern verdeckt und verdunkelt in der Speisekammer. Immer mehr ereiferte sich der Vater, beschimpfte uns Kinder als undankbar und hoffärtig, weil wir die saure Milch nicht trinken mochten, die uns Gott der Herr geschenkt habe.
Da hast du, wie es deine Art war, eine skeptische Miene aufgesetzt und gefragt, weshalb Gott der Herr so leicht verderbliche Gaben wie die Milch erschaffen habe, wenn es ihm nicht egal sei, ob die Menschen diese trinken oder etwas anderes. Und ob nicht jede Gabe Gottes so gut sei wie die andere, sodass es ihm genauso recht sei, wenn Kinder süßen Apfelmost trinken anstatt saurer Milch.
Unsere Mutter presste vor verhaltenem Lachen die Lippen zusammen und holte den grauen Steingutkrug mit dem Most. Doch den Vater ergriff die Wut, er packte dich am Kragen, zog dich von deinem Stuhl und schlug dir ins Gesicht, zwei Mal, drei Mal, vier Mal … so heftig, dass du zu Boden fielst und zittertest, nicht aufhören wolltest zu zittern. Du würdest bloß ein Theater abziehen, behauptete der Vater, nahm den Stock und prügelte weiter auf dich ein, bis sich deine Fingernägel in den Dielenboden krallten und Blut aus deinem Mund quoll, denn du hattest dir in die Zunge gebissen. Unsere Mutter lief schreiend auf die Gasse, flehte die Nachbarn um Hilfe an, weil sie dachte, der Vater würde dich umbringen in seinem Zorn. Als man ihn endlich durch gutes Zureden so weit besänftigt hatte, dass er von dir abließ, lagst du weiter zitternd am Boden, schaumige Spucke rann aus deinem wie zum Schrei geöffneten, aber stummen Mund. Bis du nach einer gefühlten Ewigkeit in Ohnmacht sankst und lange nicht aufwachen mochtest. So hat es die Mutter aufgeschrieben.
Du konntest dich am Tag danach wohl an den Anlass bei Tisch, doch nicht mehr an deinen Sturz und das Zittern erinnern. Vielleicht war das der Grund, dass dich die Prügel durch den Vater keineswegs geknechtet hatten, ganz im Gegenteil. Du hast deine Aufmüpfigkeit kultiviert, zumal er seit jenem Tag davon absah, dich noch einmal so heftig zu schlagen.
»Möchten Sie eine Tasse Gottesgabe, werte Dame? Oder lieber etwas anderes?« So sollten wir einander fragen, wenn wir in der Unterführung am Bahndamm Wirtshaus spielten. Wir hatten Tücher über ausgediente Wagenräder gebreitet. Das waren die Tische. Lindenblätter nahmen wir als Teller, kleine Zweige als Besteck. Und die Glockenblumenblüten, das sollten die Tassen sein. Als Ältester hast du gern die Regie in unserem Spiel übernommen. Und die einzig richtige Antwort auf die Frage nach der Gottesgabe, die kannte schon die kleine Heidemarie, kaum dass sie mitmachen durfte. Man hatte hinter vorgehaltener Hand zu flüstern: »Nein, ich will keine saure Milch, ich will Apfelmost!« Dann durfte gelacht werden.
Später haben wir oft darüber gerätselt, was unseren Herrn Vater so aufgebracht hatte. Deine Frage war altklug und spitzfindig, das schon, aber kein Grund für solchen Zorn. Vielleicht hat er geahnt, was für ein Querkopf und Spötter du werden solltest. Vielleicht hat er auch schon geahnt, dass die Zeiten für Querköpfe und Spötter denkbar schlecht bestellt sein würden. Wer weiß.
Eine Freundin der Mutter, Gertraude hieß sie, oder Gertrude, eine wallende graue Mähne und auffallend große Zähne hatte sie, galt als Heilerin. Sie erklärte dem Vater, dass nicht die Ohrfeigen, sondern ein Mangel an Lebenskraft spendenden Vitalstoffen schuld an dem Anfall gewesen sei. Man solle uns Kindern mehr Obst reichen, wintersüber auch Schlehen und in Frühjahr Rhabarber mit etwas Honig. Wenn aber ein Kind um Apfelmost bitte, dann solle man ihn ihm geben, denn solches Verlangen sei ein Hinweis der Seele, was dem Leib fehle, um gesund zu bleiben.
So begannen wunderbare Zeiten für uns Kinder, oft gab es Beeren- und Pflaumenkompott zum Abendbrot. Über Winter bekamen wir eingemachte Pfirsiche und Birnen zu essen, auch Backäpfel, Rosinen und getrocknete Aprikosen. Das bedeutete ein
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