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Neben Der Spur

Neben Der Spur

Titel: Neben Der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ella Theiss
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Festessen für uns an fast jedem Tag.
    Nur, dass die Diagnose falsch war, Hermann, und dass deine Anfälle sich trotz der vielen Vitalstoffe und ansonsten unabhängig von weiteren Prügelstrafen durch unseren Vater wiederholten. Eine Untersuchung in der Schweiz bestätigte, was die Eltern schon ahnten: Epilepsie. Ein Schock, besonders für den Vater. Mens sana in corpore sano war sein Credo. Unmöglich, dass bei der gesunden Lebensweise, die wir in Eden führten, eine Geisteskrankheit ausbrach. Es sei denn, jemand verletzte heimlich den Essenscodex, nahm Schweinefleisch, Zucker und weißes Brot zu sich. Oder aber da wären erbliche Dinge im Spiel, eine Unsauberkeit der Gene, irreparabel in einer Familie verankert, eine Schande – auch für Eltern und Geschwister.
    Nun entschloss sich der Vater, uns täglich zu stählen. Durch Kniebeugen und Liegestütze, durch Wassertreten nach Kneipp, durch Lichtbäder nach Felke. Besonders durch trockenes Vollkornbrot, das wir ohne jede Flüssigkeit zigmal kauen und dann hinunterschlucken mussten. An der Anregung Gertrudes, viel Obst zu essen, hielt er fest, auch als wir größer wurden und gerne auch einmal ein Rührei mit Speck zu Abend gegessen hätten.
    Doch alles Stählen, Turnen und Vollkornbrotkauen war umsonst. Die Anfälle wiederholten sich, die Nachbarn warfen scheele Blicke und wir flohen aus Eden, wo jeder jeden kannte. Zu den Großeltern in die Stadt am Rhein. Das Versteckspiel begann.
    Mein Gott, Hermann, was für ein Versteckspiel dann begann! Hauslehrer. Privatärzte. Schweigegeld. Und noch mehr Schweigegeld, nachdem bei Vater der Muskelrheumatismus ausbrach. – Zwei vermeintlich erbliche Leiden in der Familie? Ein gefundenes Fressen für die Rassenhygieniker, die ihre Schnüffeltour durch die Krankenakten schon begonnen hatten. – Zeckenbisse. Alles Folgen von Zeckenbissen. Ab 1934 hatten wir es dank der Parteimitgliedschaft der Eltern sogar schriftlich.
     
    Seitenweise falbfarbenes Papier mit blasser Courierschrift und braunen Tupfen wie Altersflecken entlang der Blattränder. Das kleine e hüpft überall aus der Reihe. Karo atmet genüsslich den schwach metallischen Duft alter Druckertinte ein. Sie fährt mit dem Finger die Einrisse in den Briefbögen nach, wo jemand sie gekniffen haben muss, damit sie in die Briefumschläge passen. Briefumschläge, die zusammen mit den Briefen abgeheftet wurden und jeweils einen Posteingangsstempel bekommen hatten …
    »Macht dir Spaß, hier rumzuwühlen, hab ich recht?«
    Karo fährt zusammen, dreht sich nach der samtenen Stimme um.
    Rick lehnt im Türrahmen, verschränkt die Arme und zeigt sein Justin-Timberlake-Lächeln. Hat er sie beobachtet? Die ganze Zeit?
    »Hi«, sagt er, kommt näher. »Tut mit leid, wenn ich dich erschreckt hab.«
    Mehr als ein atemloses Hallo bringt Karo nicht raus.
    »Bin hier, um dir zu helfen!«
    »Ah – eh – so.«
    »Schon was gefunden?«
    »Keine Rezepte zu Würzmitteln. Aber hier«, sie hebt den Order an, den sie auf dem Schoß liegen hat, »ist seitenweise von Suppen aus Linswurst die Rede.«
    »Lins-wurst?«
    Karo versucht ein kesses Grinsen. »Hab schon nachgesehen. Nicht mal Google weiß, was damit gemeint sein könnte.« Sie streicht eine nicht vorhandene Strähne von ihrer Stirn.
    »Zeig mal!« Rick kommt auf Tuchfühlung nahe, beugt sich über ihre Schulter. Sein Atem streift ihr Ohr, ein perfekter Mix aus Pfefferminzöl und Sandelholz weht Karo an.
    »Da steht was von Leguminosen.« Er richtet sich auf. »Wahrscheinlich was Ähnliches wie Erbswurst.«
    »Ach ja, natürlich, Erbswurst«, sagt Karo. Zum Glück klingt es staubtrocken humorig.
    Er lacht. »Eine Art Instantbrühe mit Erbsenmehl, war wie eine Wurst geformt. Sehr nahrhaft. In ein paar Läden gibt’s die heute noch.«
    »Schmeckt das denn?«
    »Keine Ahnung! – Aber apropos schmecken: Ist dir klar, dass du neulich im Labor, als es um Hepps Beste ging, was ganz Revolutionäres gesagt hast?«
    »He?«
    »Du hast vorgeschlagen, einen Ersatz für die synthetischen Würzmittel zu finden.«
    »Hab ich das?« Karo überlegt angestrengt.
    »Die Verbraucherschützer sind nämlich neuerdings schlecht auf die Stoffe zu sprechen, mit denen Firmen den pikanten Geschmack von erhitztem Fleisch imitieren. Es heißt, davon würden die Leute fett.«
    »O nein!« Karo ist entsetzt. Geht das zusätzliche Pfund, das ihre Waage heute Morgen anzeigte, womöglich auf das Konto der kleinen Veggiewürstchen, die sie manchmal in der Kantine

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