Neben Der Spur
gezacktem weißen Rand auf Seidenpapier. Karo steckt die Nase rein: muffig süßlicher Duft – ein bisschen wie Schokolade.
Sie nimmt die Fotos heraus, breitet sie einzeln vor sich aus. Eines zeigt fünf nackte Frauen, die auf einer Wiese eine Art Reigen vollführen. Die gelösten taillenlangen Haare flattern um die gelupften Brüste, die rundlichen Popos und Hüften schimmern in der Sonne. Karo schüttelt den Kopf. Komische Ästhetik! Für moderne Maßstäbe wären diese Frauen allesamt übergewichtig.
Es folgt ein ganzer Satz Aufnahmen von Menschen bei der Gartenarbeit, im Mittelpunkt jeweils ein blondes Baby, das mit zusammengekniffenen Augen in einem Bollerwagen hockt, dicht bei ihm eine junge Frau mit Kopftuch und zu großer Schürze, die wie selbstvergessen Furchen in ein unbewachsenes Beet harkt. Unweit dahinter zwei Jungen in kurzen Hosen an einem Pumpbrunnen, damit beschäftigt, eine Gießkanne zu füllen. Auf der zweiten und dritten Aufnahme hockt das Baby im Klee, die Frau bückt sich, zupft Unkraut, die Jungen hängen wie Äffchen in einem Obstbaum, winken in die Kamera. Im Hintergrund Getreidefelder, darüber Schäfchenwolken. Wären die Fotos farbig, könnten sie die Vorlage für einen alten Heimatfilm abgeben.
Weitere Aufnahmen scheinen die Entwicklung des blonden Babys bis zum Schulkind zu verfolgen. Doch dann findet Karo ein Porträt der ganzen Familie. Das Mädchen hockt beinebaumelnd im hellen Rüschenkleid auf einem gedrechselten Tischlein, die Hände fromm im Schoß gefaltet. Flankiert wird es von seinen halbwüchsigen Brüdern in steifen Matrosenanzügen, beide einen Punkt neben dem Betrachter fixierend. Rechts und links hinter ihren Kindern thronen die Eltern auf klassizistischen Ohrensesseln und in zeittypisch dunklem Sonntagsornat. Unverkennbar die Frau vom Gartenbild – und unverkennbar ihre Söhne. Drei Mal das gleiche schmale Gesicht, die feine Nase, ein Grübchen im Kinn. Der größere, ältere Junge hat etwas dunkleres Haar als der Rest der Familie. Kein Zweifel, das ist Hermann Hepp im zarten Alter von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren.
Zuunterst in der Katzenzungenschachtel eine Serie von fünf Fotos, die die beiden erwachsenen Brüder als Teilnehmer einer Gruppe junger Wanderer vor einer Hügelformation zeigen.
Karo wird schwindelig. Was diesmal nicht bloß an ihrem lahmen Kreislauf liegt. Eine Sensation ist dieser Fund! Das wird ihr jetzt erst bewusst. – Hat der Senior nicht gesagt, alle privaten Fotos aus der Zeit vor 1945 seien mitsamt einem Gartenhäuschen verbrannt?
Kurz entschlossen schleppt Karo die Margarinekiste mit den Haushaltsbüchern ins Geschäftsarchiv, versteckt sie zwischen den untersten Regalreihen – zur vielleicht späteren Verwendung.
Die Katzenzungenschachtel samt Inhalt trägt sie mit der Souveränität eines ehrlichen Finders zum Senior hinüber, der sie zwar nicht eingeladen hat, aber wie immer freudestrahlend begrüßt.
»Diese Fotos haben Sie sicher schon vermisst, nicht wahr, Herr Hepp?«
Er kaut seine Unterlippe. »Ich wusste nicht mehr so recht, wo sie waren. – Schön, dass Sie sie entdeckt haben.« Er greift nach dem Bild mit den tanzenden Nackedeis, streichelt mit der Zeigefingerkuppe den blondesten der Schöpfe. »Das war meine Frau Mamá.« Nach hochherrschaftlicher Manier betont er die zweite Silbe.
»Haben Sie sie – geliebt?«, fragt Karo, verfolgt sein Mienenspiel, rechnet fest mit einer verhaltenen Bärbeißigkeit, die die Linien zwischen Nase und Mundwinkeln zu tiefen Kratern zusammenstürzen lässt.
Im Gegenteil, sein Gesicht glättet sich. »Sie war der Stern in meiner Kindheit.«
»Ach!« Karo beschließt, ihm das zu glauben. Dass seine Mutter ihn als Erwachsenen in eine Klapsmühle gesteckt hat, eine Klapsmühle der Nazis, muss nicht heißen, dass sie ihn schon als kleinen Jungen misshandelt hat.
Der Senior entwickelt zusehends gute Laune. Er schlägt sich auf die Schenkel vor Lachen, als er die Gartenbilder betrachtet, schwärmt von den Obstbäumen in Eden, den wunderbaren Äpfeln, Zwetschgen, Kirschen, von dem Pumpbrunnen, den Bächen, Wäldern, erzählt von seiner lieben Mamá. Sie habe ihre Kinder vor dem oft recht strengen Vater in Schutz genommen …
Karo greift zu der Studioaufnahme, die die versammelte Familie zeigt. Zwischen dem steifen Arrangement und den fröhlichen Gartenfotos scheinen Welten zu liegen.
»Was für ein reizendes Foto«, sagt Karo. »Nur Ihre – äh – Frau Mamá sieht etwas
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