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Neben Der Spur

Neben Der Spur

Titel: Neben Der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ella Theiss
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ihn zu sehen. Ach, so weh, Hermann! Mit seinen Hosenträgern und seinem artigen Seitenscheitel. Ganz am Rand steht er auf dem Bild, sieht nicht in die Kamera. Wolfgang stand immer irgendwie am Rand. Sah uns nicht in die Augen, wenn er mit uns sprach. Wenn er überhaupt mit uns sprach. Du mochtest ihn nicht. Dachtest, dass er hinterhältig und verlogen sei, und hast ihm misstraut, immer misstraut. Hast nicht bemerkt, du Depp, dass es andersherum war, dass er dir misstraute, uns allen. Weil wir uns ausgrenzten von den anderen, die du Spießer nanntest. Wolfgang glaubte, er käme davon, sogar als Jude käme er davon, wenn er nur ein braver Krankenpfleger bliebe, wenn er nicht rauchte, nicht Swing tanzte oder gar Lieder aus Brechts Dreigroschenoper sang …
    Brechts Dreigroschenoper! Hörst du sie singen? Rosa, deine süße kleine Rosa mit ihrem Bruder Joachim? »Und der Hai-fäsch, där hat Zäh-nä, und die trägt är im Gäsächt …« Ihre Stimmen klangen, als hätten sie jeder ein Reibeisen verschluckt. Wir haben dazu die Maultrommeln gezupft: Bäng-bäng-bäääng-bääng … Der metallische Geschmack der Maultrommel auf der Zunge, das Vibrieren sämtlicher Zähne und das bittere Lied im Kopf.
    Manchmal in der Morgendämmerung, da träume ich wieder von Haifischen. Aus der rheinhessischen Wellenlandschaft tauchen Gestalten mit Haifischleibern auf, fallen über uns her, beißen uns die Köpfe ab, formen Kanonenkugeln daraus und schießen sie in den Rhein, dass das braune Wasser aufspritzt. Plötzlich stehst du bei ihnen, stehst bei den Haifischen, kopflos, marschierst mit ihnen mit. Und Rosas Schreie gellen aus dem blutroten Himmel. »Was machst du da, du Verräter! Du elender Verräter …«
    Immer und immer wieder solche Träume, nass vor Schweiß aufwachen, zitternd nach dem Knopf der Nachttischlampe tasten. Durchatmen. Nach der Lesebrille greifen, nach der Zeitung … Lies! Es ist vorbei. Alles vorbei. Wir haben wieder eine Republik, ganz lange schon. Und in Berlin ist jetzt eine Frau Bundeskanzler. Bundeskanzlerin ist sie. Was für ein komisches Wort: Bundeskanzlerin. Was sagt man dazu, Hermann!
     
    Nun auch noch das! Fassungslos starrt Gudrun auf den Schirm ihres Laptops, überfliegt den während der Nacht eingegangenen Mailtext ein zweites, ein drittes Mal, schlägt beide Hände vor den Mund, um nicht laut aufzujaulen.
     
    Sag der Polizei ruhig, dass meine Mitstreiter von der FFA die Wahrheit gesagt haben. Den Sprengstoffanschlag habe ich allein zu verantworten. Es war eine Torheit, die mir jetzt leid tut …
     
    Torheit? Ja, er schreibt Torheit!
     
    Mir ist inzwischen klar geworden, dass ich Menschen gefährdet habe. Das wollte ich nicht. Ihr könnt beruhigt sein, ich werde mein Handeln nicht wiederholen, obwohl ich es nicht ertrage, dass unsere Firma sich unter deiner Leitung an massenhafter Tierquälerei beteiligt …
     
    »Tsss!« Gudrun kichert bitter. Retrieverdame Trixi, bis eben noch eingerollt neben Gudruns Schreibtisch dösend, streckt die Vorderpfoten von sich und richtet ihre Triefaugen zur Zimmerdecke.
    Der absurde Vorwurf passt natürlich zu Valentin. Der Ausdruck massenhafte Tierquälerei sowieso. Aber: mein Handeln – noch so ein seltsam antiquierter Ausdruck für einen Neunzehnjährigen. Gudrun wird schwindelig vor lauter Befremden.
     
    Wenn du morgen früh diese Mail erhältst, bin ich auf dem Weg in einen anderen Teil der Welt, wo ich versuche, mir ein neues Leben aufzubauen. Ich habe genug Bargeld. Meine Firmenanteile überschreibe ich meinem einzigen Freund Rolf. Aus diesem Fundus könnt ihr den durch den Anschlag entstandenen Schaden begleichen. Dann bleibt wohl immer noch genug übrig, um es in dein unethisches Hühnerprojekt zu stecken. Die Vollmacht für Rolf habe ich in einem Schließfach am Frankfurter Hauptbahnhof deponiert. Der Schlüssel erreicht euch per Einschreiben. Sucht mich nicht und lasst mich nicht suchen. Ich kehre nie wieder zurück. Valentin
     
    Gudrun fröstelt es. Wie wenig sie doch ihren Neffen kennt! Neues Leben aufbauen und ich kehre nie wieder zurück – so viel Pathos hat sie ihm nicht zugetraut. Immerhin schließt er diesmal nicht mit dein Valentin, sondern gewohnt prosaisch, mit Valentin – sonst nichts.
    Gudruns Blick fällt auf die geöffnete Tastatur ihres Flügels, auf die Notenblätter des dritten Satzes von Griegs Klavierkonzert. Da musste sie nun sechsundfünfzig Jahre alt werden, ehe sie zum ersten, zum allerersten Mal die Chance zu einem

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