Neben Der Spur
Weißschatten zu und schläft ein.
Wenn Valentin erwacht, wenn die bunten und weißen Schatten verschwunden sind, dann ist es immer so … so … Valentin weiß das richtige Wort nicht. In Rheinhessen sagen sie ›duschter‹. Nicht dunkel, nicht dämmrig, sondern dazwischen. Als ob es nie ganz Tag wäre und nie ganz Nacht. Da fallen matte Strahlen aus der Wand. So wie jetzt. Einer Wand, die so dick scheint wie die alter Burgen.
Ja, genau! Es ist ein Lichteinfall wie in Mittelalterfilmen, wo sie ein Kellerverlies zeigen wollen. Kaspar Hauser. So sah das aus in dem Keller von Kaspar Hauser. Es muss mit einem anderen Leben zu tun haben. Was war das für ein Leben? War das in Mainz? War das im Fernsehen? Das Fenster war kein Fenster, keins mit Scheiben zum Öffnen, sondern ein kastenförmiges Loch ins Freie, das ein wenig Tageslicht einließ. Licht, das sich zylindrisch auf dem fest getretenen Lehmboden abzeichnete. Dem Lehmboden in Kaspar Hausers Keller. Wo Kaspar Hauser eingesperrt war.
Hier ist der Boden anders, gelb gefliest. Und das Licht ist matt gefiltert wie von einer Stromsparbirne in den ersten Sekunden nach dem Einschalten. So dünn, so diffus. Duschter … My name is Kaspar Hauser. I live in Mainz. Germany. – Ich will meine Brille zurückhaben. Und ich will nach Hause. Bitte, ich will nach Hause …
3
ÜWERZWERSCH
Was Rick als Dorfkneipe bezeichnet hat, liegt an der Hauptstraße und heißt Zur Sonne. Dank wechselnder Führung während der vergangenen Jahrzehnte hat das Gasthaus ein liebenswertes multikulturelles Flair entwickelt. Allein die Speisekarte vereint ganz Europa: elsässische Zwiebelsuppe, schlesischer Jägertopf mit Pommes, Balkanteller mit Krautsalat … Nicht zu vergessen die zwölf Sorten Pizza. Das Mobiliar folgt vordergründig einer alpinen Ästhetik in heller Buche, die mit Toskanalandschaften in Tempera farbenfroh kombiniert wird. Modellschiffe, Fischernetze und Meeresgetier-Imitate tragen zu einer gewissen nautischen Note bei. Und dank der dunklen Holztäfelung entlang der langen Wandseite und der schmiedeeisernen und plastikumgrünten Trennwände ist auch der urdeutsche Charme der Gaststätte keineswegs verblichen.
Urdeutsch erscheint Karo speziell das Publikum, das an den runden Tischen im ›Hof‹ thront, einem gefliesten, von umgebauten Stallungen umgebenen offenen Karree in der Größe eines Kinderzimmers. Plexiglasdächer, Markisen und etwas Baumbewuchs schützen die trinkfreudigen Gäste sogar vor anhaltendem Nieselregen, erlauben somit Inhaber Salvatore hier das Rauchverbot außer Acht zu lassen. Vermutlich aus diesem Grund soll Salvatore demnächst die silberne Ehrennadel des Heimatvereins verliehen bekommen, wie Karo erfährt. Wobei Stammgäste finden, es dürfte gerne auch die goldene sein.
Zu diesen Stammgästen gehört in vorderster Front ein betagtes Zwillingspaar, das entfernt an die Wildecker Herzbuben erinnert: der Walter und der Willi, beide mit kugelrundem Wams und von Couperose durchzogenen Hängebäckchen. Zugesellt hat sich ihnen der hagere Schorsch, dessen Knollnase wie eingeklebt aus zwei scharf gezeichneten Nasolabialfalten ragt. Die drei Männer begrüßen Rick wie einen artigen Neffen, den sie möglicherweise in ihrem Testament bedenken werden. Er darf dem Walter einen umgefallenen Gehstock aufheben und zurück an die Stuhllehne hängen, darf dem Schorsch eine Zigarre kupieren und anschmauchen. Karo wird als Ricks »Braut« in Augenschein genommen und respektvoll goutiert: »Was e schee Meedsche!« Anschließend aber ignoriert, zumal die Bedienung des Lokals, eine Polin namens Kamilla, weit mehr Dekolleté samt Busen aufzuweisen hat.
Die Männer lassen sich wortreich zu Themen von weltpolitischer Bedeutung aus, kommen von der Eurokrise zur Energiewende, vom Frauenfußball auf die Ehec-Bakterien. Rick scheint den Weisheiten der alten Herren zu lauschen, schiebt unterdessen die Zehenkappe seiner Sneakers Karos nackte Wade hinauf.
Karo betrachtet Rick verstohlen: schief gelegter Kopf, aufgerissene Augen, die von einem Redner zum anderen blicken. Ein perfektes Mienenspiel. Sie unterdrückt ein Kichern.
Endlich meldet er sich zu Wort, zieht den Bogen vom Thema Gaddafi zu dem im Frühsommer auf freien Fuß gesetzten John Demjanjuk und lässt die drei Saufköpfe ihre Philosophien dazu entwickeln.
»Die arm Sau«, meint der Walter, »war doch bloß ’n Kriegsgefangener. Was hätte die mit dem gemacht, wenn der net gespurt hätt, damals? Na, Rick, was
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