Neben Der Spur
großen öffentlichen Auftritt bekommt. Sie wünscht sich nur ein bisschen Zeit, Ruhe, Muße, um sich angemessen vorzubereiten … in ein paar Tagen ist die erste Orchesterprobe und die Läufe im zweiten Satz – da-da-daaa-da-li-da-daa-da – muss sie dringend noch einmal üben. Die Philharmoniker sollen mit ihr zufrieden sein, die müssen mit ihr zufrieden sein!
Heute Nachmittag, komme, was da wolle, wird Gudrun üben. Jetzt allerdings muss sie diesen Kommissar anrufen, diesen Herrn … Oder zuallererst Rolf? Natürlich! Als Erstes muss sie Rolf von dieser Mail erzählen. Der ist bestimmt in seiner Wohnung, hat sich heute freigenommen. Gudrun greift nach dem Telefon, will die Nummer eintippen, da surrt das Gerät schon los und zeigt auf dem Display Rolfs Festnetznummer. Dankbar drückt Gudrun die Annahmetaste.
»Sei jetzt ganz stark, mein Liebling! Ich hab ein Bekennerschreiben von deinem Neffen bekommen«, sagt er, als spreche er zur einer Todgeweihten.
»Ich auch.«
»Ach, du auch?«
Gudrun trägt ihm den schwülstigen Mailtext vor, den sie schon auswendig kennt.
Rolf hört zu, ohne sie zu unterbrechen. »Meine Mail ist natürlich an mich gerichtet, aber sonst fast identisch«, sagt er schließlich.
»Tja«, Gudrun schiebt ihren Laptop von sich, »ich informiere dann mal diesen Kommissar. Wenigstens einer, der sich freuen wird. Aber ich fahre hin, will nicht, dass er schon wieder hier aufkreuzt und alle Mitarbeiter verstört. – Ob die Polizei den Fall damit abschließt?«
»Das nehme ich an. Jedenfalls, wenn wir unsere Anzeige zurückziehen. Valentins Spur weiter zu verfolgen, wäre zu aufwendig. Und wäre auch nicht in unserem Sinn.«
»Ich … ich weiß nicht …«
»Was weißt du nicht?« Rolfs Stimme klingt ärgerlich. »Stell dir vor, sie fahnden nach ihm, nehmen ihn fest, stecken ihn ins Gefängnis – und dann stell dir vor, was die Presse daraus macht!«
»Es ist nur … die Wortwahl in dieser Mail verwundert mich. Er schreibt sonst ganz anders.«
»So? – Das ist sicher die Aufregung. Ich glaube kaum, dass ihn das alles kaltlässt.«
»Ich möchte den Kommissar trotzdem darauf hinweisen. Es könnte ja sein, dass die Mail nicht von Valentin stammt. Ein anderer könnte sie geschrieben haben, jemand, der sein Passwort herausgefunden hat …«
»Gudrun, mein Herz! Es wäre albern, sein Geständnis der Polizei gegenüber zu zerpflücken. Man würde die liebende Tante und Ersatzmama wittern, die den Tatsachen nicht ins Auge sehen will.«
»Das ist mir gleichgültig. Womöglich ist er entführt worden, wird irgendwo festgehalten. Ich kann ihn nicht einfach so fallen lassen, aufgeben.«
»Ach, und seine Entführer schenken uns, anstatt uns zu erpressen, seine Firmenanteile? Damit wir den Schaden begleichen, den sie angerichtet haben? – Gudrun, du machst dich lächerlich.« Rolfs Stimme klirrt vor Spott.
Gudrun beißt sich auf die Lippen. Schweigt. Massiert sich die Stirn, um besser denken zu können. Ja, Rolf hat recht. Wieso sollte ein Entführer, statt eine Geldforderung zu stellen, Papiere in sechsstelligem Wert ankündigen?
»Gib es doch zu«, sagt Rolf und seine Stimme überschlägt sich, »im Grunde bist du froh, dass Valentin weg ist. Und dass er nicht wiederkehrt.«
Gudrun wird heiß vor Scham, sie bringt keinen Ton mehr heraus.
Rolf schnauft ins Telefon, lacht, sein Ton wird allmählich versöhnlicher. Er kündigt an, sich rasch zu duschen und zu rasieren, eine Kleinigkeit zu frühstücken und dann mit ihr ins Kommissariat zu fahren. »Aufgeregt wie du bist, solltest du kein Auto steuern«, sagt er, so liebevoll wie sonst auch. »Und ich will dich begleiten bei diesem schwierigen Termin.«
»Gut, danke dir!« Gudrun seufzt und legt auf. Rolf will ihr helfen. Mein Gott, was wäre, wenn sie Rolf nicht hätte!
Das Telefonat ist seit Minuten beendet, das Gerät liegt bäuchlings auf Gudruns Schreibtisch, gleich neben dem Laptop. Gudrun kann ihren Blick nicht davon lösen, ihre Gedanken kreisen um alles, was Rolf gesagt hat. Stimmt es denn nicht? Kann sie nicht froh sein, diesen querköpfigen Jungen los zu sein? Einerseits. Andererseits ist er ein Hepp, gehört zur Familie. Blut ist dicker als Wasser, sagt Hermann immer. – Überhaupt Hermann. Wie soll sie dem alten Mann Valentins dauerhaftes Verschwinden erklären, ohne ihm das Herz zu brechen? Und selbst wenn Valentin in den Anschlag verstrickt ist, was allemal wahrscheinlich ist, er ist so jung! Er sollte eine zweite
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