Neben Der Spur
Sie?«
»Sie meinen, er ist – üwerzwersch?«
»Nun – ehemm – so würde ich es nicht ausdrücken. Der Stimmlage zufolge war er betrunken, als er aufs Band sprach. Vielleicht hat er sogar harte Drogen genossen und entsprechend unter Halluzinationen gelitten. Ja, es sieht ganz danach aus, dass man ihn hilflos aufgefunden und zur Ausnüchterung in ein Krankenhaus gebracht hat.«
»Er spricht von Gittern, von einem Irrenhaus.«
»Eine neurologische Abteilung eben. Verwirrte Personen werden oft erst mal in die Neurologie gebracht.« Hans-Bernward zieht eine genervte Miene, sortiert den Postberg zurück, von rechts nach links. Und denkt nach: Wo ist Vali? Er hat gesagt, er kenne die Sprache nicht.
Ein Gespräch mit Gudrun, vor nicht ganz einem Vierteljahr, fällt de Beer ein. Er hatte zufällig einem Briefwechsel entnommen, dass bei dem Diätprojekt in Tschechien auch geistig Behinderte als Testpersonen herangezogen würden. Gudrun winkte ab, sie wisse davon. Bei diesen Menschen handele es sich um stark Übergewichtige, die natürlich nur mit Einverständnis ihrer Angehörigen einer Reduktionsdiät mit den neuen Produkten unterzogen würden. Da die dazu verwendeten Suppen alle wichtigen Nährstoffe in gesunder Relation enthielten und unter strengster ärztlicher Aufsicht getestet würden, sei das Projekt ethisch absolut vertretbar.
Hans-Bernward meldete Zweifel an. Man könne nicht sicher sein, ob mit den Behinderten durchweg korrekt und gewaltfrei umgegangen werde. Aber Gudrun führte ins Feld, dass Rolf immer wieder hinreise, um sich intensiv um die Abläufe zu kümmern. – Was, wenn nun Valentin nach Cheb gereist ist, vielleicht in der Hoffnung, dort seinen Freund Rolf heimlich treffen zu können? Und, aus Versehen quasi, in den Pool dieser Testpersonen geraten ist?
»Sie wollen die Polizei nicht verständigen?«, unterbricht die Rosenkranz seine Gedanken.
»Nein. Dieser Mitschnitt würde gänzlich überflüssigerweise einen Verdacht auf den Geschäftsführer lenken. Es würde neue Befragungen und Untersuchungen geben. Neue Besuche von der Polizei. Ich möchte zumindest abwarten bis kommende Woche.«
»Bis Frau Hepp ihren großen Auftritt hinter sich hat?«
»Sie haben es erfasst.«
»Und dann?«
»Vielleicht wird Frau Hepp einen Privatdetektiv beauftragen. Das soll sie selbst entscheiden.«
»Und wenn Valentin Hepp wirklich entführt …?« Die Stimme der Kollegin klingt belegt.
Hans-Bernward hält beim Briefsortieren inne, sieht kurz auf, sieht in ihr Gesicht. Ein zweifellos hübsches Gesicht mit wunderschönen Augen. Die diesmal nicht vor Neugier eingekniffen, sondern vor Sorge geweitet sind. Vielleicht hat die Kleine ja wirklich Mitgefühl, ein soziales Gewissen? Er kann kaum verhindern, dass seine Stimme eine milde Nuance annimmt. »Mein Neffe ist sicherlich in guter Obhut. Aber wenn es Sie beruhigt: Ich werde selbst nach ihm suchen. Sie halten derweil hier die Stellung!«
»Wo wollen Sie ihn denn suchen?«
Hans-Bernward denkt nach. Was soll er ihr antworten?
»In Spanien?«, fragt sie.
Er stutzt. Tatsächlich denkt fast jeder in die falsche Himmelsrichtung. »Natürlich Spanien. Nordspanien, Jakobsweg«, sagt er und beginnt, die auf seiner Schreibunterlage herumliegenden Stifte zu ordnen. »Wenn Sie mir helfen wollen, Frau Rosenkranz, dann suchen Sie doch mal alle psychiatrischen Kliniken entlang dem Jakobsweg im Internet heraus.«
Das Fräulein Karola ist so voller Mitgefühl, Hermann! Wollte wissen, ob wir auch damals am Bahnhof von Herleshausen gestanden und auf den Zug gewartet haben, der die letzten sowjetischen Kriegsgefangenen nach Hause brachte. Damals, 16. Januar 1956. Und wie es war, die letzte Hoffnung zu verlieren, weil der vermisste Bruder nicht unter den Heimkehrern war – nicht unter den Heimkehrern war.
Was sollte ich dem guten Kind antworten, Hermann? Dass wir natürlich auch da gestanden haben, die Mutter und ich. Von dem quälend langsam einrollenden Zug habe ich dem Fräulein erzählt, mit den Hunderten aus den Fenstern winkenden Armen. Und dass die Mutter ein neues grünes Hütchen trug, grün wie die Hoffnung. Die dann zerstob – natürlich zerstob. Und wie die Zugtüren aufsprangen und die vielen vermissten Väter und Söhne und Brüder herausstiegen, ausgemergelt, halb verhungert, an Leib und Seele geschunden, aber wieder daheim. Und wie sie alle mit Musikkapelle und Fähnchen und Freudentränen empfangen wurden, weil nun alles wieder gut würde, für sie, für
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