Neben Der Spur
ihre Familien. – Nur nicht für uns, nicht für die Hepps und für viele andere, die mit uns dort standen und an diesem Tag die letzte, ihre allerletzte Hoffnung verloren.
Nein, ich habe ihr nicht erzählt, dass die Mutter sich das Hütchen eigens gekauft hatte, weil es sehr eng am Kopf saß. Eine etwas enge Kopfbedeckung, davon war sie überzeugt, zwingt den Geist, die Gefühle zu zügeln. Und es galt allemal, sich zu beherrschen. Wussten wir doch, dass wir nur um der amerikanischen Verfolger willen angereist waren, die mit ihren neumodischen graugelben Mänteln und, eine Zigarette nach der anderen rauchend, abseits von dem Jubel und Trubel warteten, uns argwöhnisch beobachteten.
Doch als die Türen sich öffneten, Hermann, da keimte so der widersinnige Wunsch in mir auf, dass du heraustreten würdest, dass du wieder vor uns stehen würdest mit deinem spöttischen Lächeln und mit dem Koffer aus Pappmaschee, auf dessen Deckeln du die vielen Schildchen von deinen Reisen aufgeklebt hattest: Hamburg, Edersee, GarmischPartenkirchen … Und fantasiert habe ich, dass ein ganz neues Schildchen darauf sein würde, eines aus der Schweiz, aus Zürich, wo du tatsächlich und wahrhaftig überlebt hättest.
Und als du ausbliebst, Hermann, natürlich ausbliebst, da brach alles aus mir heraus, die Schuld, die Wut, die Tränen. Und es gab den Moment, da ich mich am liebsten den Amerikanern entgegengeworfen hätte. ›Ja, ich bin’s. Nehmt mich fest. Erschießt mich. Denn ich bin schon tot. Die Nazis haben meinen lieben Bruder umgebracht. Ich bin schon tot …‹
Da nahm die Mutter meinen Kopf zwischen ihre Hände und drückte ihn fest. Als ob sie mir auch einen engen Hut aufsetzen wollte. »Bleib«, hat sie gefleht, »bleib! Die kleine Gudrun hat vielleicht bald nur noch dich.« Dann hat sie mich umarmt, wie alle anderen Mütter ihre heimkehrenden Söhne umarmt haben. Und geweint hat sie wie alle anderen Mütter um ihre für immer verschollenen Söhne geweint haben. Und ich stand starr und sah mich um, sah mich nach den Häschern um, die sich abwandten und davonfuhren in einem schwarzen Ford.
Ich glaube, Hermann, das war der Tag, an dem ich endlich zu Hause ankam. Nach zehn Jahren zu Hause ankam. Ein bisschen wenigstens.
Was für ein Tag! Pitschfeuchte achtundzwanzig Grad Celsius, das gesamte Rhein-Main-Becken ein tropisches Terrarium. Im Verwaltungsflügel der Firma Hepp macht sich ein stechender Geruch breit. Die Deos auf Basis von naturreinem Alaun scheinen bei vielen Kollegen zu versagen. Speziell bei Frau Fried, die durch alle Büros weht und den lauwarmen Salbeitee mit Citrusöl und Agavendicksaft empfiehlt, den sie in der Küche bereitet hat. Und eindringlich vor dem Genuss von Kaffee warnt wegen drohender Dehydrierung und damit einhergehender Kollapsneigung.
»Oh, danke! Ich komme mit meinem makrobiotisch angebauten Matetee bestens zurecht«, versichert Karo. Als Frau Fried nervös blinzelt, womöglich weil sie solche Getränke gar nicht kennt, beeilt Karo sich anzumerken, dass sie ihr momentan hervorragend fließendes Qi in die redaktionelle Überarbeitung des Kontaktformulars auf der Website der Firma einfließen lassen möchte. Diese wichtige Aufgabe soll sie nämlich auf ausdrücklichen Wunsch von Herrn de Beer bis übermorgen erledigt haben. Und zwar ganzheitlich. Der Sermon wirkt. Nicht gegen das klebrige Gefühl an Gesicht und Hals, das am Rücken festgeklebte Seidenshirt, aber immerhin gegen Frau Frieds Wortergüsse.
Kaum ist die Personalbeauftragte aus der Tür, reißt Karo beide Fenster auf, klickt den Bildschirmschoner mit den glücklichen Suppenterrinen auf Schwarz und zieht einen Papierbogen aus der Innentasche ihrer Büromappe, auf dem sie schon gestern Abend versucht hat, die bei den Hepps grassierenden Wunderlichkeiten zu strukturieren. Denn das Ambiente der Firma mag ideal sein für eine investigativ arbeitende Journalistin wie Karo, vorausgesetzt diese Journalistin weiß, was sie recherchieren will. Karo weiß es nicht.
Sie studiert ihre Liste:
Ein senil gewordener Naziverbrecher, der mit einem seiner Opfer, nämlich seinem ermordeten Bruder, die Rollen getauscht hat.
Ein designierter Firmenchef und militanter Tierschützer, der behauptet, entführt worden zu sein. Und es vielleicht sogar ist.
Ein museal wertvolles Grundrezept für ökologisch korrekte Tütensuppen, das vergessen beziehungsweise unauffindbar ist.
Karo besinnt sich auf ihren Mindmap-Kursus im vergangenen Jahr,
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