Nebenan: Roman
Dielen scharren. Die Tür zur Hütte schwang auf. Ein mittelgroßer, stämmiger Mann erschien im Eingang. Über dem rechten Auge trug er eine bunte Stoffbinde. Sein braunes Haar war schulterlang und ein wenig zerzaust. Hängende Wangen und eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen gaben seinem Gesicht einen mürrischen Zug. Er trug ein weites Obergewand aus verschlissenem, braunem Stoff, abgewetzte Lederhosen mit langen Fransen an den Nähten und Stiefel, die mit goldenen Sporen geschmückt waren. In der Rechten hielt er eine Pfeife aus rotem Wurzelholz.
»Wollt ihr nun endlich herüberkommen oder seid ihr nur zum Gaffen hier?«, fragte er mit tiefer, ein wenig dissonanter Bassstimme und winkte einladend mit der Pfeife.
Gabriela war die Erste, die ihr Pferd vorantrieb. Misstrauisch hielt sie den gae bolga auf die Gestalt in der Tür gerichtet, bereit, sofort auf das geringste Anzeichen für einen Hinterhalt zu reagieren.
Till hingegen war wie versteinert. Er kannte diesen Mann! Auch wenn er im Moment nicht zu sagen wusste, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Dieses Gesicht, die mürrischen Züge, das verlorene Auge … Dies alles war ihm so vertraut wie sein eigenes Spiegelbild!
»Heh, peace!« Der Fremde hob die Hände über den Kopf. »Wir gehören doch alle zum selben Haufen.« Er lächelte. »Wie heißt das auch gleich bei euch? Make love, not war!«
»Das war vor meiner Zeit!«, entgegnete Gabriela und schwang sich aus dem Sattel ohne den Fremden dabei aus den Augen zu lassen. »Und wenn du Liebe brauchst, dann solltest du die Pfeife aus der Hand legen und dir ein stilles Örtchen suchen, alter Mann.«
Der Einäugige seufzte und griff sich mit übertriebener Geste an die Stirn. »Diese negativen Schwingungen! Man merkt, dass ihr schon länger mit Wallerich zusammen seid. Selten habe ich ein Geschöpf getroffen, das so viele negative Energien in sich gebündelt hat!« Er lächelte väterlich. »Aber du bist noch nicht verloren, mein Kind. Ich kenne da einen sehr entspannenden Weg, deine Aura wiederherzustellen …«
»Noch so ein Spruch und die nagelt Oswald mit dem Speer an die Hauswand«, raunte Wallerich sichtlich begeistert.
»Oswald?«, fragte Till ungläubig. Und dann begriff er, woher er das Gesicht des Fremden kannte. Monatelang hatte er eine Porträtminiatur vor sich auf dem Schreibtisch stehen gehabt. Ein spätmittelalterliches Bildnis, mit dem der Künstler dem Ritter sichtlich geschmeichelt hatte. Doch die Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen.
Till trieb seine Stute zur Hütte hinüber. Dem Ritter, über den er seine Magisterarbeit geschrieben hatte, gegenüberzustehen! Oswald von Wolkenstein – Poet, Träumer und Rebell , so war der Titel seines Werkes gewesen. Und jetzt war Gabriela dabei, mit seinem Forschungsobjekt einen handfesten Streit anzufangen! Till sprang aus dem Sattel und warf sich zwischen die beiden. »Ihr seid Oswald von Wolkenstein?«, keuchte er atemlos.
Der Ritter wirkte einen Moment irritiert. »Kennen wir uns?«
»Ich weiß alles über Sie! Über Ihre Fehden, die Gedichte, die Reisen! Ich habe eine wissenschaftliche Arbeit über Sie geschrieben.«
Der Ritter wandte sich von der Tänzerin ab. »Eine wissenschaftliche Arbeit? Über mich und meine Gedichte? Ich habe immer gewusst, dass sie bedeutend sind!« Er lächelte geschmeichelt. »Lass uns doch hineingehen und ein wenig plaudern. Ich könnte dir auch ein paar von meinen neueren Liedern vortragen. Ich muss sagen, eure neue Musik gefällt mir sehr gut. Diese Lieder von … wie heißen sie auch gleich …Käfer oder so ähnlich … Ach ja, und die Beach Boys. Wirklich klasse Musik! Auf meinen Reisen habe ich ein bisschen von der Vulgärsprache der Angelsachsen mitbekommen. Nicht dieses verstümmelte Französisch, das ihre normannischen Herren sprechen. Die Sprache des Volkes! Sie ist sehr hübsch und eignet sich gut für Liedertexte. Daran hat sich auch in euren Zeiten nichts geändert. Leider vermag ich auf meinem bescheidenen Instrument nicht ganz den rechten Ton für diese neue Musik zu treffen. Als ich das letzte Mal drüben war, hatte ich mir eine E-Gitarre besorgt … Aber wenn man nach Nebenan zurückkehrt, ist das ja alles futsch!«
»E-Gitarre«, mischte sich Martin ein. »Könnte ich Yesterday noch mal auf Laute gespielt hören? Ich interessiere mich auch für mittelalterliche Musik. Kennen Sie vielleicht zufällig das Pippi-Langstrumpf-Lied? Das sollten Sie mal auf Harfe mit Sackpfeifenbegleitung
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