Nebenan: Roman
zähem roten Saft verschmierten Konservendose, die neben der Möwe lag. »Gut gefrühstückt?«
»Nein. Eine Dose Fisch in Tomatensauce, die ich im Sturzflug aus einem Einkaufswagen geholt habe, kann man wohl kaum ein gutes Frühstück nennen.« Schnapper blinzelte. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?«
»Nichts läge mir ferner … Ich äh … Vielleicht könnte ich dich ja auf ein Frühstück einladen.«
Die Möwe legte den Kopf schief und starrte. Falls ein Schnabel, der Konservenblech so mühelos wie ein Dosenöffner durchschneidet, zu einem boshaften Lächeln fähig war, lächelte Schnapper. »Mich zum Frühstück einladen? Hier?«
»Ich … hmm … dachte eigentlich mehr an den Fischmarkt.«
»Weißt du, tote Sachen zu essen ist nicht richtig befriedigend. Ich mag es, wenn mein Essen noch ein bisschen zappelt.«
»Zappelt«, wiederholte Wallerich tonlos und dachte an den verschwundenen Malko.
»Auf dem Weg in die Schneeeifel werden wir an ein paar Fischteichen vorbeikommen«, krächzte die Möwe und beugte sich. »Steig jetzt endlich auf meinen Rücken. Ich hab keine Lust, den ganzen verdammten Tag hier auf dem Dach zu hocken.«
Wallerich gehorchte, saß auf und krallte die Finger in Schnappers Halsgefieder. Die Möwe stieß ein mürrisches Krächzen aus. Sie watschelte zur nächsten Regenrinne, stürzte sich kopfüber vom Dach und segelte wild mit den Flügeln schlagend dem Pflaster des Albertus-Magnus-Platzes entgegen. Ein Radfahrer, der die Möwe geradewegs auf sich zukommen sah, zog es vor, sich mit einem Hechtsprung über den Lenker in Sicherheit zu bringen, bevor er Bekanntschaft mit Schnappers Schnabel machte.
»Scheißsonntagsfahrer!«, fluchte die Möwe und schoss nun in steilem Bogen zum Himmel hinauf.
Wallerich biss die Zähne zusammen und beglückwünschte sich dazu, heute Morgen noch nicht gefrühstückt zu haben.
*
Birgel war froh, dass Nöhrgel ihm die Sache mit dem Ring nicht nachtrug. Er konnte es einfach nicht ertragen, wenn man böse auf ihn war. Selbst die Tatsache, dass der Älteste ihn gerade als Packesel benutzte und ihn eine Aktentasche schleppen ließ, die mit Bleibarren gefüllt schien, tat seiner Freunde darüber, dass die Ringaffäre überstanden war, nicht den geringsten Abbruch. Ein wenig beunruhigend fand Birgel jedoch, dass der Alte darauf bestanden hatte, die schwere Aktentasche mit einer massiven Kette an seinem Handgelenk zu befestigen. Aber Birgel wusste aus Erfahrung, dass man am besten mit den Leuten auskam, wenn man ihnen unangenehme Fragen ersparte – und so hatte er geschwiegen.
Nöhrgel trug lediglich eine große Papprolle, in der wohl irgendwelche Pläne verwahrt wurden. Aber Birgel hatte für diese Art der Lastenteilung volles Verständnis. Schließlich trug der Alte auch die Verantwortung und das war eine Last, die Birgel um keinen Preis der Welt hätte übernehmen wollen.
Die Versammlung des Rates sollte in einem vergessenen Luftschutzbunker tief unter dem Philosophikum stattfinden. Weil es ein schöner Herbstabend war, hatte Nöhrgel darauf bestanden, quer über den Albertus-Magnus-Platz zu gehen, statt wie üblich einen der Verbindungstunnel zwischen Hauptgebäude und Philosophikum zu benutzen. Birgel hatte sich über die Entscheidung gewundert, denn der Platz war alles andere als ein städtebaulicher Geniestreich und nicht sonderlich hübsch anzuschauen. Am attraktivsten war noch das Sitzbild, das den alten Albertus Magnus zeigte, von dem Nöhrgel übrigens behauptete ihn noch persönlich gekannt zu haben. Von einer Videokamera überwacht hockte der Humanist in Denkerpose neben dem Vordereingang des Hauptgebäudes, einem schmucklosen Sandsteinbau aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Auf der anderen Seite des Platzes erhob sich in Terrassen ansteigend das Philosophikum, eine Zikkurat des Wissens, aus einer Zeit, in der man Flachdachbauten mit Hochhausflair noch hübsch fand. Die größte Bausünde jedoch war zweifellos das Hörsaalgebäude, ein schäbiger Betonklotz, bei dem man aus unerfindlichen Gründen bei den meisten Hörsälen darauf verzichtet hatte, Fenster einzubauen. Das mochte sachlich und funktional sein, schön war es gewiss nicht. Passend zu dieser Tristesse gab es seit neuestem noch zwei Fressbuden mitten auf dem Albertus Magnus-Platz, deren Angebote Birgel aber in Anbetracht der köstlichen Menüs, die in der Heinzelmännchen-Kantine geboten wurden, nicht wirklich verlockend fand. So blieb rätselhaft, aus welcher Laune
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