Nebenan: Roman
okkulten Künste einführt.«
»Das finde ich auch.«
In Cagliostros Stimme lag ein Unterton, der dem Erlkönig zu denken gab, doch bevor er sich darüber klar werden konnte, wie der Graf seine Antwort vielleicht gemeint haben mochte, ergoss sich eine Tüte Popcorn über einen Nachbarn zwei Sitze weiter links.
»Das tut mir aber Leid, du Quasselstrippe«, höhnte die Bassstimme.
»Wirklich amüsant, die moderne Theaterkultur«, kommentierte Cagliostro die Popcornschlacht, die neben ihnen entbrannte, bis drei Ordner in die ausufernde Debatte eingriffen.
Dem Erlkönig war es peinlich. Er begriff die Welt um ihn herum nicht. Zu viel hatte sich geändert seit seiner Zeit, aber er hoffte, dass er sie, sobald er die letzte Seite des Konversationslexikons gelesen hatte, besser verstehen würde. Im Augenblick erschien ihm alles voller Widersprüche. Selbst die Darbietung auf der Bühne. Jetzt stand dort ein Fremder und gab vor, der große Philip Pirrip zu sein. Dabei konnte doch jeder, der nur halbwegs einen Blick für die Aura eines Menschen hatte, sehen, dass es sich um einen Schwindel handelte! Aber vielleicht gehörte es ja zum Ritual solcher Zaubershows, dass man über das Offensichtliche einfach hinwegsah?
Auf der Bühne verschwand der vermeintliche Magier in einer Wolke von Nebel.
»So ein Betrüger«, murmelte nun auch Cagliostro. »Den Trick habe ich vor zweihundert Jahren schon gesehen.« Der Graf deutete auf einen großen Kasten, der zwischen den Zuschauerrängen stand. »Er ist schon dort. Es muss einen Tunnel oder so etwas geben.«
Dramatischer Trommelwirbel hallte durch die Kölnarena, in der es ansonsten mucksmäuschenstill war.
Der Erlkönig lehnte sich in seinem Sitz zurück und dachte daran, dass die Show nach diesem großen Auftritt vermutlich bald vorbei sein würde. Er sollte versuchen sich zu entspannen und das Verhalten der Menschen zu studieren. Wenn er jemals wieder Einfluss auf sie haben wollte, dann musste er wissen, was sie bewegte, und vor allem, was sie beunruhigte.
»Eine Schande für die ganze Innung«, brummte der Graf.
Mit einem Knall öffnete sich der Kasten zwischen den Zuschauerrängen. Dichter Nebel quoll hervor. Der Trommelwirbel verstummte. Es herrschte atemlose Spannung. Scheinwerfer schnitten helle Bahnen in die Dunkelheit und alle Lichtstraßen kreuzten sich inmitten des Nebels, der langsam verflog. Und dann sah man es … Oder genauer gesagt, man sah nichts. Trommelwirbel hallte aus den Lautsprechern und wurde abrupt unterbrochen, als auch die Tontechniker bemerkten, dass irgendetwas schief gelaufen war.
Wieder war es für einige Augenblicke still, dann erklang eine blecherne Stimme. »Meine Damen und Herren, wir bitten um Entschuldigung. Offenbar ist es bei der Durchführung des Zauberkunststücks zu einer Panne gekommen. Bitte bleiben Sie auf Ihren Sitzen und gedulden Sie sich noch einen Moment.«
Leises Rauschen tönte aus den Lautsprechern und dann die schrille Stimme einer Frau: »Nein, er ist wirklich fort! Wir haben schon überall nachgesehen.« Offenbar hatte jemand versehentlich das Mikro einer der Assistentinnen eingeschaltet.
Die zwei Sätze beendeten die angespannte Stille. Jemand begann hysterisch zu lachen und dann dauerte es kaum einen Herzschlag, bis sich die Kölnarena in einen tobenden Hexenkessel verwandelte.
Der Erlkönig sah zu Cagliostro. »Du?«
Cagliostro lächelte unschuldig und statt zu antworten erklang eine Stimme im Inneren des Elbenfürsten. »Im Grunde hast du mir gezeigt, wie es geht. Man fokussiert seine Gedanken, konzentriert sich allein auf eine Idee und nutzt die Macht, die im Überfluss vorhanden ist …«
»Und wo ist der Kerl jetzt?«
Als eine Gruppe panischer Zuschauer gleich einer durchgehenden Rinderherde durch ihre Sitzreihe pflügte, begann der Graf zur hohen Decke zu schweben.
Der Erlkönig beeilte sich ihm zu folgen. »Wo steckt Pirrip?«
Cagliostro zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Ich habe ihn mir nur fortgewünscht. Daran, wo er landen könnte, habe ich keinen Gedanken verschwendet. Muss denn jemand, der irgendwo verschwindet, zwangsläufig an einer anderen Stelle wieder auftauchen?«
*
Wallerich hatte schon das dritte Mal geklopft, bevor aus Nöhrgels Kammer ein gereiztes Herein! erklang. Der Älteste hatte sich ein Mikroskop bringen lassen und stand auf einem Stapel von Büchern, um durch eines der beiden Okulare blicken zu können. Neben ihm lag auf einem Schreibpult eine alte Handschrift mit
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