Nebenan: Roman
heraus Nöhrgel auf dem Spaziergang bestanden haben mochte, doch wer war er schon, dachte Birgel bei sich, dass er sich anmaßte den Ältesten verstehen zu wollen.
Es waren nur noch wenige Studenten unterwegs und die beiden Heinzelmänner mussten kaum Acht geben, um nicht über den Haufen gerannt zu werden. Tagsüber war das wesentlich schlimmer. Es konnte schon ein Kreuz sein, wenn man unsichtbar und obendrein nur dreißig Zentimeter groß war, denn obwohl die Geschöpfe von Nebenan nicht wahrgenommen werden konnten, waren sie deshalb nicht weniger stofflich als die Studenten. Wenn die Langen wüssten, wie oft sie mit einem Angehörigen der Zwergenvölker Fußball spielten, ohne zu ahnen, worüber sie gerade gestolpert waren!
Sie hatten das Philosophikum fast erreicht, als Birgel plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Da stand doch irgendein junger, nach menschlichen Maßstäben gut aussehender Kerl vor einer der Fressbuden, hatte seinen Mantel aufgeschlagen und pinkelte ungeniert in eine Mülltonne. Und als ob das noch nicht schlimm genug war, schien der Kerl obendrein, mal abgesehen von einem Paar Gummistiefel, völlig nackt unter dem Mantel zu sein!
Einige Schritte weiter ging eine Studentin an dem Exhibitionisten vorbei, doch sie würdigte den Wüstling nicht eines Blickes. Ja, sie ging nicht einmal schneller, ganz so, als sei das, was dort geschah, das Selbstverständlichste der Welt.
»Chef«, raunte Birgel erschüttert. Der Alte war schon ein Stück weiter und so in Gedanken vertieft, dass er ebenfalls nichts bemerkt hatte. »Chef!« Der Heinzelmann zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Wüstlings. »Sehen Sie mal dort drüben!«
In diesem Moment blickte der Kerl in ihre Richtung. Einen Herzschlag lang verharrte er, dann stieß er ein unmenschliches Geheul aus und eilte ihnen mit langen Schritten entgegen.
»Lauf, Birgel!«, schrie der Älteste, doch der Heinzelmann hätte keiner Aufforderung bedurft, um seine Beine in die Hand zu nehmen. So schnell er konnte, stürmte er der nächsten Tür ins Philosophikum, dem Eingang für Rollstuhlfahrer, entgegen, der nur noch ein paar Meter entfernt lag. Vielleicht hätte er ihn auch erreicht, wäre der schwere Aktenkoffer nicht an sein Handgelenk gekettet gewesen und ihm zwischen die Beine geraten. So schlug Birgel einige Purzelbäume, und noch bevor er halbwegs begriffen hatte, was geschah, war der Wüstling über ihm.
Alles ging rasend schnell. Seltsamerweise hatte Birgel das Gefühl, gar nicht richtig am Geschehen beteiligt zu sein, sondern wie ein unbeteiligter, aber sehr interessierter Zuschauer neben sich zu stehen. Der Kerl war über ihm, riss sein Maul weit auf und machte alle Anstalten, ihm in die Kehle zu beißen. Mit absurder Deutlichkeit registrierte der Heinzelmann den üblen Mundgeruch, der ihm entgegenschlug, und das ungewöhnliche Gebiss des Exhibitionisten. Es schien aus lauter Reißzähnen zu bestehen, so wie bei einem großen Hund. Zwischen den Zähnen klebte etwas, das an Kaninchenhaare erinnerte.
Birgel wollte den Koffer hochreißen, was aber nicht richtig gelang, weil der Angreifer halb darauf kauerte. Immerhin schaffte es der Heinzelmann, die Kofferkette zwischen die Reißzähne und seine Kehle zu bekommen. Knirschend fuhren die Fangzähne in die Titankette – und dann war das letzte Bollwerk, das Birgels Hals noch hätte retten können, dahin. Ausgerechnet in diesem Augenblick war die überraschende Fähigkeit, das Geschehen wie ein Außenstehender mit analytischer Distanz zu betrachten, dahin. Birgel kniff in Panik die Augen zusammen und die Tatsache, dass er in diesem Moment bedauernd daran dachte, niemals einen von Nöhrgels berühmten Zwiebelkuchen gekostet zu haben, wertete er als sicheren Hinweis, dass es jede Sekunde mit ihm vorbei sein musste. Schließlich wusste jeder, dass Opfer, die im letzten Moment gerettet wurden, in einem einzigen Herzschlag ihr Leben an sich vorbeiziehen sahen, um hinterher richtig was zu erzählen zu haben. Von einem Heinzelmann hingegen, der in Todesgefahr an Zwiebelkuchen dachte, hatte Birgel noch nie gehört. Was vermutlich nur bedeuten konnte, dass die meisten nicht mehr dazu gekommen waren, etwas zu erzählen.
Der Exhibitionist stieß ein schrilles Heulen aus und langsam schlich sich in Birgels Bewusstsein der unerfreuliche Gedanke, dass der Kerl sich ziemlich viel Zeit damit ließ, ihn umzubringen. Vielleicht wollte dieses Ungeheuer ihn ja noch etwas quälen?
Vorsichtig blinzelte der
Weitere Kostenlose Bücher