Nebenan: Roman
eng, aber es ist wenigstens trocken.«
Till betrachtete die Esche. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo sie beide dort einen Unterschlupf finden sollten. »Ich … gerne! Ich meine …«
Etwas Kühles, Nasses berührte seine Hand. »Mach die Augen zu. Ich führe dich. Und bitte versuch nicht zu blinzeln, du würdest den Bann brechen, und es gibt einen Moment, in dem das sehr gefährlich sein könnte. Willst du mir folgen?«
»Wohin immer du gehst!« Till schloss gehorsam die Augen, und als die Dryade an seiner Hand zog, setzte er sich mit vorsichtig tastenden Schritten in Bewegung. Zuerst spürte er noch Blätter unter seinen Sohlen, dann hatte er das Gefühl, die Dryade führe ihn durch dichtes Gestrüpp. Äste und Wurzeln zerrten an seinen Kleidern. Plötzlich schnellten sie zurück. Der Regen hörte schlagartig auf.
»Du darfst die Augen jetzt wieder öffnen.«
Blinzelnd sah sich Till um. Der Friedhof war verschwunden! An dem Ort, zu dem die Dryade ihn gebracht hatte, herrschte grünes Zwielicht. Der Boden war mit Moos, welken Blütenblättern und bunten Federn bedeckt. Man konnte nicht sehr weit sehen. Am Rande des Gesichtsfeldes ging das unstete grüne Zwielicht in dunkle feste Schatten über. Das Licht nahm seinen Ursprung in einem Stein oder Kristall, der über ihren Häuptern schwebte.
»Wo sind wir hier?«
»In meinem Baum«, erklärte die Dryade stolz.
»Entschuldige … war ’ne dumme Frage, du bist schließlich eine Dryade. Wo sollten wir auch sonst sein, wenn wir zu dir nach Hause gehen.« Till sah sich beklommen um. Dieser Baum war von innen bedeutend größer, als er von außen ausgesehen hatte! Ein angenehm würziger und zugleich süßlicher Geruch hing in der Luft. Es duftete nach Frühling!
Tills Augen gewöhnten sich jetzt an das Zwielicht. Deutlicher konnte er nun seine Umgebung erkennen, doch die Dryade war noch immer unsichtbar. »Wie heißt du?« Seine Worte waren nur ein Flüstern. Zu fremd erschien ihm dieser Ort, der alles verneinte, was beinahe zwei Jahrzehnte der Schulbildung ihn gelehrt hatten. Hier endete die Welt, wie er sie kannte.
»Neriella.« Wieder stand sie hinter ihm! Er drehte sich um. Vergebens! »Deinen Namen kenne ich, Till. Lange schon bist du ein Gast in meinem Garten und in meinem Herzen.«
Der Blick des Studenten fiel auf etwas Vertrautes. Am Rand der Finsternis lag, säuberlich glatt gestrichen und zusammengefaltet, eine Aldi-Tüte.
Sie schien seine Verwunderung bemerkt zu haben. »Die Tasche hat ein junger Mann als Geschenk in meinem Garten zurückgelassen. Ist sie nicht schön? So bunt. Und Wasser gleitet von ihr ab. Sie beginnt auch nicht zu schimmeln wie Leder, das feucht geworden ist. Ein wunderbares Material. So glatt und kühl. Gibt es auch Kleider daraus?«
»Ich … ähm … ich glaube nicht. Es ist …« Wie sollte er ihr klar machen, dass dieses Geschenk nur Abfall war? Er wollte sie nicht verletzen. Könnte er sie nur sehen!
»Manchmal lassen sie auch andere kleine Stücke aus diesem sonderbaren Stoff zurück. Ich habe sie alle gesammelt, gesäubert und eine ganze Kammer damit gefüllt!« Ihre Stimme überschlug sich vor Begeisterung. »Willst du sie sehen?«
»Dein Baum hat noch mehr Kammern?«, fragte Till ausweichend.
»Oh ja! Einen Vorratsraum, ein kleines Bad, mein Nest und dies hier ist mein Triklinum, wo ich Gäste empfange. Man kann sich überall gemütlich hinlegen. Ich habe nur besonders weiches Moos ausgewählt …« Neriella stockte. »Es wäre schön, wenn du mich sehen könntest. Zugleich fürchte ich mich davor. Du würdest doch nicht lachen, wenn ich dir fremd erscheine, nicht wahr? Ich bin nicht so wie die anderen Mädchen an der Universität. Ich bin … anders.«
Till kroch ein Schauer den Rücken hinauf. Was würde ihn erwarten? Alles, was er kannte, war ihre warme, freundliche Stimme. »Gibt es denn keine Möglichkeit, dich zu sehen?«
»Schon … Aber es liegt allein an dir. Komm mit.« Sie führte ihn durch eine beklemmend enge Kammer, in der es nach Erde und Sandelholz roch. Dahinter lag eine Nische, die mit Daunen und frischen Blüten geschmückt war. Ein Vorhang aus schillernden Eichelhäherfedern trennte die Nische von der Kammer. Nur ein kleiner Kristall glühte über dem Lager. Neriella beugte sich vor, suchte etwas zwischen den Federn und reichte Till schließlich einen kleinen, irdenen Krug. »Trink dies. Es wird den Schleier zerreißen.«
Misstrauisch schnupperte der Student an dem Krug.
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