Nebenan: Roman
Dann fasste er sich ein Herz. Er war nicht so weit gegangen, um jetzt durch ein Zögern wieder alles infrage zu stellen. Der Trank schmeckte bitter wie Wermut und brannte in der Kehle. Er begann zu husten, nahm noch einen Schluck und noch einen. Was immer in dem Krug sein mochte, es wirkte schnell. Prickelnde Wärme überlief ihn bis in die Zehenspitzen. Er fühlte sich benommen und schwer. Till stellte den Krug ab und lehnte sich gegen die kühle Holzwand. Ihm war schwindelig. Das gedämpfte, grüne Licht brannte ihm unangenehm in den Augen. Die schwarzen Wände begannen zu schwanken. »Was … was ist das?«, stammelte er benommen.
»Keine Sorge, es ist von Jupp, einem Freund. Er lebt ganz in der Nähe unter der Hintertreppe der Universitätsbibliothek. Er trinkt jeden Abend zwei Flaschen davon und hat jedes Mal andere Namen dafür: Rachenputzer, prima Fusel, Selbstgebrannter. Einmal hat er sogar behauptet, dass kleinen Mädchen davon Haare auf der Brust wachsen würden. Ich hab es nie probiert. Er hat mir versprochen, dass es dir helfen wird mich zu sehen. Ist es nicht in Ordnung?«
»Doch, doch.« Till hatte das Gefühl zu fallen, obwohl er mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. Plötzlich schien die Kammer voller Nebel zu sein. Und dann sah er sie. Sie schien von innen heraus zu leuchten. Der Nebel zerschmolz. Ihre großen Augen unter den sanft geschwungenen Wimpern glichen Smaragden. Sie wich seinem Blick aus und sah verlegen zu Boden.
»Ich hoffe, ich gefalle dir wenigstens ein bisschen.« Ihre Stimme zitterte.
Till war sprachlos. Sie trug ein muschelweißes Gewand aus einem Stoff, zart wie Spinnweben. Nass klebte es an ihrem Körper und enthüllte mehr von Neriellas Reizen, als es verbarg. Die Dryade war schlank, fast schon dürr, ihr Leib mädchenhaft, die Brüste nur sanfte Hügel, unter denen sich die geschwungenen Linien ihrer Rippen durch die Haut abzeichneten. Noch immer hielt sie den Kopf gesenkt, sodass Till ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte. Langes, dunkelgrünes Haar reichte ihr bis zu den Hüften.
Vorsichtig streckte der Student seine Hand nach ihr aus und verharrte dann doch. Er hatte Angst, dies alles sei nur ein verrückter Traum, und sobald er Neriella berühre, müsse er erwachen und der Bann sei für immer gebrochen. Ein Märchen zu leben, konnte das wahr sein? Schon begann ihre Gestalt wieder zu verwischen, so als wolle das unstete grüne Licht sie in sich aufnehmen.
»Bist du wirklich?«, flüsterte er mit schwerer Zunge. »Bitte, sei kein Traum.«
Sie sah auf. Ihr Gesicht war schmal, von hohen Wangenknochen beherrscht. Volle Lippen ließen sie sinnlich erscheinen, obgleich ihre smaragdfarbenen Augen mit geschlitzten Pupillen auf den ersten Blick unheimlich wirkten. Ein eigentümliches Leuchten ging im Zwielicht von diesen Augen aus, so wie von Katzenaugen, die überraschend im Dunklen aufblitzten. Neriella hatte dunkelgrüne, schmale Augenbrauen und eine hohe Stirn. Ihre Haut war weiß mit einem leichten lindgrünen Schimmer.
Till kannte Gestalten wie die Dryade aus Fantasyromanen und war ähnlichen Geschöpfen auch im Rollenspiel schon oft begegnet, doch diese Phantasien Wirklichkeit werden zu sehen lähmte ihn. Auf der einen Seite hätte er fast alles dafür gegeben, einmal einem Geschöpf wie Neriella zu begegnen, auf der anderen Seite machte sie ihm Angst. Und der Pennerfusel, den sie ihm gegeben hatte, tat ein Übriges dazu, sodass ihm im Augenblick vor allem speiübel war.
»Ich habe noch nie einen Sterblichen hierher eingeladen.« Sie lächelte kokett. »Ich hoffe, mein Heim gefällt dir … Es ist ganz anders als die Steinhäuser, die ihr euch baut, nicht wahr?« Sie schob den Vorhang aus Eichelhäherfedern zur Seite, setzte sich auf ihr Lager und kreuzte die Beine in einer Art, die Till einen wohligen Schauer über den Rücken gejagt hätte, hätte er sich nur ein wenig besser gefühlt. Trotz der lasziven Geste wirkte Neriella zugleich unschuldig wie ein junges Mädchen.
»Was ist das für ein Gefühl, wenn man seine Lippen aufeinander drückt? Im Sommer sehe ich das oft. Manchmal sind junge Pärchen hier im Park. Küssen heißt das, was sie tun, nicht wahr? Ist es angenehm? Ich glaube, manche verwenden sogar die Zunge dabei.«
»Hast du … einen Eimer … oder eine Schüssel?«, stöhnte Till hinter zusammengebissenen Zähnen. »Ich glaube … ich muss …«
»Eine Schüssel?«, fragte die Dryade verwundert.
»Bitte …«, stammelte Till und verwünschte stumm
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