Nebenweit (German Edition)
Verbindung zu der anderen Welt haben. Besser, sagt er, weil viele unter uns heute Kleider tragen, die nicht von der Hand unserer Frauen gefertigt sind, sondern die er und seine Schüler von dort mitgebracht haben. Ich frage euch: Was ist daran besser?
Er sagt, er könne bewirken, dass nicht mehr vier von fünf Kindern sterben, ehe sie fünf Sonnenläufe erlebt haben – und ich frage euch, wie vielen ist dieses Glück längeren Lebens wirklich zuteilgeworden? Er sagt, er will im Laufe der Sonnen immer mehr unserer Kinder in jene Welt bringen – und ich frage euch, wer soll dann hier in unserer Welt die Arbeit tun, wenn unsere Besten dort verweichlicht werden und zu keiner ordentlichen Arbeit mehr fähig sind?
Und damit ist noch nichts über jene Abtrünnigen gesagt, die sich einfach von hier wegstehlen und zur Schande unseres ganzen Volkes ihr Glück in der anderen Welt suchen.
Nein, jene Welten, jenes Land des Überflusses, der Gier und der Wollust, von dem unsere Kinder erzählen, kann und darf nicht unsere Zukunft sein, das können die Götter nicht wollen, und ich und wer von meinen Brüdern und Schwestern den Göttern ergeben ist, wollen das auch nicht.
Vor neunzig Stäben hat die Faust der Götter das Land unserer Vorfahren erzittern lassen und kurz darauf hat der Feuergott mit einem gewaltigen Feuersturm das Strafgericht vollendet und nur unsere Ahnen verschont und sie auserwählt, das Menschenwerk noch einmal von vorne zu beginnen. Ja, sie haben in Schweiß und Entbehrung gelebt, jene Männer und Frauen, die das Strafgericht überlebt haben, aber den Göttern war ihr Leben wohlgefällig, und so konnte jene Handvoll Menschen dem Schwarzen Tod trotzen. Und später, viel später, konnten sie dem weisen Undanx folgen und ihren Weg hierher in dieses von den Göttern gesegnete Tal finden, wo wir jetzt schon seit über vierzig Stäben unser Leben fristen, auch wenn es ein karges ist.
Ich sage euch, folgt dem Wunsch von Alu Burex, bei dem ich zweifeln muss, ob er zu Recht den Titel eines Weisen, eines Al, trägt, auch wenn er nach wie vor mein Freund ist, und die Götter werden uns über kurz oder lang wieder ein Strafgericht schicken, so wie sie es schon einmal nach dem Großen Feuer getan haben, als vor nicht ganz sechs Stäben beinahe ein Viertel unserer Brüder und Schwestern unter Qualen starben, bedeckt von eiternden Pusteln, den ›Pocken‹, wie man die Seuche in der Anderwelt nannte. Beim nächsten Mal wird ihm vielleicht niemand entkommen, auch jene Andere Welt nicht.
Und weil ich davon fest überzeugt bin, dass dieses Strafgericht kommen wird, bitte ich euch inständig, entscheidet, dass diese Schulen in der anderen Welt geschlossen werden, dass unsere Kinder wieder hierher zu uns zurückkehren und nicht fortfahren, Neid und Missgunst unter uns zu säen.«
Bernd Lukas
31
Dupont blickte auf. Er hatte so spannend berichtet, dass ich mehrmals das Gefühl gehabt hatte, selbst inmitten der Zuhörer zu sitzen. Ein Blick auf Carol zeigte mir, dass es ihr ähnlich erging. »Das war damals eine ganz wichtige Entscheidung«, sagte er und nickte dabei, wie um seinen Worten besonderen Nachdruck zu verleihen, ehe er nach seiner Tasse griff und einen Schluck vom kalt gewordenen Kaffee nahm.
»Es gab damals eine ganze Menge Leute, die am liebsten jeden Kontakt mit der Anderwelt abgebrochen hätten. Der Anderwelt, sage ich, denn damals wussten wir zwar schon, dass es nicht nur eine gab, aber regelmäßige Kontakte gab es nur zu dieser hier. Die Ihre, Herr Lukas, die Welt also, die im zwanzigsten Jahrhundert fast pausenlos Kriege geführt hat, kannten wir zwar auch, haben uns ihr aber weitgehend ferngehalten, einfach weil diese hier friedlicher war.
Aber ein Abbrechen der Kontakte hätte das eigentliche Problem nicht gelöst, im Gegenteil, es kam immer wieder vor, dass Schüler oder auch Besucher desertierten. Und mit jedem Deserteur wuchs die Gefahr, dass unsere Existenz bekannt wurde. Und für den Fall befürchtete man, dass es uns dann nicht mehr so leicht und ungehindert möglich sein würde, Ihr Wissen ›anzuzapfen‹.
Außerdem waren damals diejenigen, die zwischen den Welten hin und her rutschen konnten, noch in der Minderzahl. Man nannte sie die Auserwählten, und schon in diesem Begriff liegt ein weiteres Problem. Nicht jeder verträgt es, ›auserwählt‹ zu sein, man neigt dann leicht zur Überheblichkeit, hält sich für besser und wichtiger als seine Mitmenschen. Diese
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