Nebenweit (German Edition)
was sie plagt.
Glaubt mir, das ist nicht so, es quält mich, dass meine Brüder und Schwestern hier oft sterben, ehe sie vierzig Sonnenläufe erlebt haben. Ihr habt mir erlaubt, die Schulen in jener Anderen Welt zu führen, die Alu Elax vor zehn Stäben dort errichtet hat und in der diejenigen unserer Brüder und Schwestern, denen es gegeben ist, den Schritt von der einen in die andere Welt zu tun, das Wissen und das Wesen der Anderen lernen. Nicht um dann ein Leben in Überfluss und Fülle zu führen – nein, um das erlernte Wissen zum Wohle unseres Volkes zu nutzen.
Seit zehn Stäben gibt es jetzt diese Schule, seit hundert Jahren, wie die Anderen und auch schon viele von uns sagen, und aus der einen Schule sind inzwischen vier geworden, und immer mehr unserer Kinder lernen, wie man den Weg dorthin gehen kann. Aber ich will euch auch nicht verschweigen, dass nicht alle hierher zurückgekehrt sind. Ich muss euch gestehen, dass es mir und denen, die dort unter meiner Führung die Schulen leiten, nicht immer gelungen ist, alle Schüler davon zu überzeugen, dass wir sie nicht ausbilden, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen, sondern dass sie dem Volk gegenüber, also euch, meine Brüder und Schwestern, in der Pflicht stehen.
Zum Glück sind jene Abtrünnigen lediglich eine kleine Minderheit, die Mehrzahl der Schüler erfüllt ihre Pflicht, sie kehren in unsere Dörfer zurück und wirken hier als Lehrer, die das Wissen der Anderen ins eigene Volk hineintragen oder – und das gilt für die Fähigsten unter ihnen – sie helfen in der Anderwelt mit, ihre jüngeren Brüder und Schwestern zu unterrichten.
Mein Anliegen ist es, dieses Werk fortzusetzen, immer mehr Kinder unserer Welt in jener anderen Welt zu Auserwählten zu machen, wie ihr sie nennt, und auf diesem Wege dem Volk allmählich ein Leben zu ermöglichen, wie es vielleicht vor hundert Stäben unsere Ahnen führen durften.
Ich weiß, viele unter euch halten dies nicht für möglich, und ich weiß auch, dass manche glauben, dies sei nicht der Wille der Götter. Aber ich frage euch, wenn uns die Götter wohlgesinnt sind – alle mit Ausnahme des Feuergottes vielleicht, und auch der hat uns nicht nur mit dem Großen Feuer bestraft, sondern uns auch das Feuer geschenkt, mit denen wir im Winter unsere Hütten heizen –, kann es dann ihr Wunsch sein, dass von fünf Kindern, die unsere Mütter zur Welt bringen, nur eines zum Mann oder zur Frau heranwächst? Kann es der Wunsch der Götter sein, dass jeden Winter Menschen sterben, weil ihr Körper zu schwach ist, um der Kälte zu trotzen?
Alu Potax, mit dem ich als Kind auf derselben Bank saß, um die Gesänge der Alten zu lernen, und der mit mir vor fünfzehn Sonnen das Fest der Mannbarkeit gefeiert hat, wird euch jetzt sagen, weshalb er glaubt, dass mein Weg der falsche ist. Er wird euch sagen, dass unser Volk auf diesem Weg ins Unheil läuft. Ich glaube nicht, dass er recht hat, bitte euch aber, ihm gut und ohne Vorurteil zuzuhören, damit eure Entscheidung die richtige für die Zukunft unseres ganzen Volkes sein möge. Ich danke euch, dass ihr mir zugehört habt.«
Burex verneigte sich vor seinen Zuhörern und schritt an seinen Platz an der Tafel zurück, wo No Satix sich erhob, ihm die Hand schüttelte, würdevoll seinen Stab waagrecht vor die Brust hob und auf den Mann wies, der zu seiner Linken gesessen hatte.
»Ich selbst habe vor fünfzehn Sonnen, ganz wie Alu Burex das gesagt hat, ihn und Potax, der damals noch nicht den Ehrentitel Alu trug, examiniert, ehe sie die Prüfung ablegen durften, und habe seitdem im Rat, aber auch bei der täglichen Arbeit das Wirken beider Männer verfolgt. Alu Potax ist ein Mann, dessen Stimme Gewicht hat, und ich bitte euch, ihm mit der gleichen Aufmerksamkeit zuzuhören, die ihr Alu Burex geschenkt habt.«
Potax, ein kräftig gebauter Mann mit schwarzem Haar und einem kurz gestutzten Bart, der seine kantigen Gesichtszüge umrahmte, war im Gegensatz zu Burex in den traditionellen, mit einer Bronzespange an der Schulter zusammengehaltenen weißen Umhang eines Al gehüllt. Auch er verneigte sich vor seinem Publikum, aus dem ihm verhaltener Beifall entgegenschlug.
»Ich danke No Satix, aber auch meinem Freund Burex, den leider das Leben in der Anderwelt in vielem geprägt hat und der trotz all seiner guten Absichten offenbar vergessen hat, was wir alle als Kinder gelernt haben«, begann er.
»Burex sagt, das Leben in unseren Dörfern sei besser geworden, seit wir
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