Nebenweit (German Edition)
Verräter bezeichnet, aber am Ende hatte die Logik den Sieg davongetragen: Nur wenn Waffengleichheit herrschte, konnten sie darauf hoffen, ihre Überzeugung durchzusetzen, und Waffengleichheit bedeutete, am Wissen der Anderwelten teilzuhaben.
Die Verräter hatten ihre Stützpunkte in der Europa-Zeitlinie errichtet und die Amerika-Zeitlinie kam wegen der ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen nicht infrage, blieb also nur die Germaniawelt, wo schon seit mehreren Jahren ein geheimer Stützpunkt bestand …
In dieser Zeitlinie errichtete die Bewegung ihre neue Basis, allerdings nicht in Krankenhäusern, sondern dicht am Kern der herrschenden Nationalsozialistischen Partei, und zwar in deren Kaderschulen, die über das ganze Reichsgebiet verteilt die künftigen Führungseliten heranbilden sollten …
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25. Januar 1993
Antolax war stolz auf seine olivgrüne Uniform mit den blauen Schulterklappen mit der rot-weißen Kordel des Jungenschaftsführers, die er seit einem halben Jahr tragen durfte und die ihn als Vorgesetzten eines Zuges Gleichaltriger auswies. Acht seiner nunmehr sechzehn Jahre hatte er in der Anderwelt verbracht und er erinnerte sich nur noch vage an das Dorf, in dem er bei seinen Eltern aufgewachsen war. Er hatte die Aufnahmeprüfung in die ›Bewegung‹ bestanden und war mit einem Dutzend Gleichaltriger in die Anderwelt gerutscht, eine Auszeichnung, um die ihn viele seiner damaligen Spielkameraden beneideten. In den sechs Dörfern um Luteta wurde viel von den Anderwelten gesprochen, und wer Leute kannte, die Zugang zu jenen Welten hatten, konnte vor seinen Spielgefährten mit manchem Gegenstand aus jener fremden Welt prahlen, ob es nun eine Schildmütze der Napola, ein HJ-Dolch oder nur ein bescheidenes schwarzes Halstuch samt dem Lederknoten war, mit dem es zusammengehalten wurde.
Antolax war von seinen Lehrern in den dichten Wäldern um Luteta auf den ›Rutsch‹ vorbereitet worden und hatte den langen Weg bis zum großen Fluss, den die Menschen in der Anderwelt Rhein nannten, mit seiner Gruppe zu Fuß auf den von Urwald überwucherten Überresten einer Straße zurückgelegt, die Römer einst gebaut hatten, ein Volk aus einer Zeit vor dem Großen Feuer, von dem es hieß, es habe den größten Teil Europas beherrscht. Wenigstens berichteten das die Gesänge der Druiden, die er als Achtjähriger hatte auswendig lernen müssen.
Den Rhein hatten sie auf einem Floß überquert und waren dann weiter nach Osten gezogen, vorbei an den Ruinen von Städten, die der Wald in tausend Jahren fast völlig verschluckt hatte, immer der aufgehenden Sonne entgegen, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten, ein von einem Palisadenzaun umgebenes Lager mitten im dichten Urwald, der die Voralpen säumte. Nachdem sie sich dort von der strapaziösen Reise erholt hatten – drei Monde lang waren sie Tag für Tag marschiert, eine gewaltige Leistung für Achtjährige – und den immer wieder geübten ›Rutsch‹ in die Anderwelt vollzogen hatten, hatte ihr Lehrmeister sie den Familien zugeteilt, die hier ihr ganzes Leben verbracht hatten und sich ganz als Bürger jenes Deutschen Reiches fühlten, in dem sie lebten. Die meisten von ihnen waren einfache Arbeiter, die ihren Lebensunterhalt in Fabriken oder in der Landwirtschaft verdienten. Die Bewegung hatte für sie gesorgt, hatte ihnen Papiere verschafft, eine künstliche Identität, die jeder noch so gründlichen Prüfung zweifelsfrei standhalten würde – und das war zwingend geboten, denn das Land, in dem sie lebten, war ein Polizeistaat, eine Diktatur, in der alle Macht beim Staat lag und der einzelne Bürger ganz der Willkür der Behörden ausgesetzt waren.
Antolax’ ›Vater‹ war ein braver Fabrikarbeiter, Parteigenosse, wie die Mehrzahl der Menschen im Deutschen Reich. Dass Antolax Schüler der Napola war, hatte er seiner Begabung und der tatkräftigen Unterstützung eines seiner Lehrer zu verdanken, der diese Begabung erkannt und gefördert hatte. Eine ganze Anzahl seiner Kameraden von dem langen Marsch aus Luteta ins Reich, von der Bronzezeit in die Neuzeit, hatten die Aufnahmeprüfung auf die Napola – Nationalpolitische Erziehungsanstalt stand in gotischen Lettern über dem Eingangsportal – geschafft. Und das war ganz im Sinne derer, die sie in die Anderwelt entsandt hatten. Sie sollten in die Eliten jener Welt aufsteigen, eines Tages an den Schaltstellen der Macht sitzen und sich dort nachdrücklich für die Ziele ihrer Bewegung
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