Nebenweit (German Edition)
einsetzen.
Antolax war dies nicht bewusst.
Er genoss es, mit gleichaltrigen Kameraden zusammen zu sein, mit ihnen Sport zu treiben, an Handfeuerwaffen ausgebildet zu werden und in den Wäldern Geländeübungen zu absolvieren, die sie auf den späteren Dienst mit der Waffe im Dienste des Vaterlandes vorbereiten sollten.
Heute war ein besonderer Tag. Sie hatten unterrichtsfrei und würden gleich nach dem Morgenappell mit Bussen nach München gebracht werden, der ›Hauptstadt der Bewegung‹, um dort an den Feiern zum Nationalfeiertag teilzunehmen. Als Jungenschaftsführer war er dazu auserwählt worden, in der vordersten Reihe an der Parade teilzunehmen, und dazu würde er zum ersten Mal statt der Uniform des Jungvolks die der Hitlerjugend tragen: schwarze Kordhose, braunes Hemd mit Hakenkreuzarmbinde und dazu das breite Lederkoppel mit dem Reichsadler. Vielleicht würde der Führer ihm sogar die Hand geben, wenn er später vor der Feldherrnhalle die Parade abnahm.
Man feierte den fünfzigsten Jahrestag der Kapitulation der Sowjetunion, mit dem der letzte Krieg in seine abschließende Phase getreten war. Sie hatten im Geschichtsunterricht gelernt, dass der Tod von eine Million unschuldiger Zivilisten durch den Abwurf der NV-Bombe der Welt Opfer in zweistelliger Millionenhöhe erspart hatte, wie eine Fortführung des Krieges es zur Folge gehabt hätte. Und seitdem lebte die Welt im Frieden, einem Frieden, den die deutschen Waffen in ganz Europa garantierten. Antolax versuchte, sich eine Stadt mit eine Million Einwohnern vorzustellen, wo doch die größte Stadt, die er bisher gesehen hatte, Rosenheim mit knapp 60 000 Einwohnern war, etwa so groß wie sein Heimatdorf Luteta mit den sechs umliegenden Dörfern.
»Still-geee-stannnden!«, hallte es über den Exerzierplatz vor der Schule. Antolax zuckte zusammen und nahm automatisch Haltung an. Die Hacken von zweihundert Jungmannen knallten zusammen, Rücken strafften sich, Köpfe richteten sich aus, zweihundert Augenpaare hefteten sich auf den Mann in schwarzer Uniform in auf Hochglanz polierten Schaftstiefeln und mit den silbernen SS-Runen am Kragenspiegel. Ein Trompetenstoß ertönte.
»Die Augen geee-rade-aus!«, hallte der nächste Befehl. Und gleich darauf »Rühren!«
»Jungmannen, heute ist ein besonderer Tag. Ihr könnt es als eine Ehre betrachten, dass man euch ausgewählt hat, an diesem Tag stellvertretend für das ganze deutsche Volk an einer Parade in der Hauptstadt der Bewegung teilzunehmen, bei der unser Führer des Tages gedenkt und ihn mit dem ganzen deutschen Volk feiert, an dem Großdeutschland endgültig den ihm gebührenden Platz an der Spitze der ganzen Welt eingenommen hat. Heute vor fünfzig Jahren hat die Vorsehung dem über alles geliebten ersten Führer des deutschen Volkes, Adolf Hitler, den Sieg über die Feinde unseres Volkes und der ganzen arischen Rasse geschenkt. Nein, nicht geschenkt, mit dem Blut unserer heldenhaften Soldaten an allen Fronten in Europa und Afrika haben unsere Väter diesen Sieg erkämpft, und in Deutschlands schwerster Stunde, als die heldenhaft kämpfende 5. Armee in Stalingrad, das heute den stolzen Namen Adolfograd trägt, damals kurz vor der Vernichtung durch bolschewistische Horden stand, erwies sich der Genius unserer Rasse als siegreich.
Wenn heute Mittag der Führer und Reichskanzler des Großdeutschen Reiches, Gerhard Frey, vor euch steht und euch auffordert, den Eid auf ihn, das Großdeutsche Reich und die Arische Rasse zu schwören, so ist dies ein Symbol für die ganz besondere Rolle, die das Reich und die Rasse in der modernen Welt einnehmen. Ich weiß, dass ihr euch dieser Ehre würdig erweisen werdet, und gratuliere euch allen dazu, dass ihr dieser ganz besonderen Ehre teilhaftig werdet …«
Diese Worte hallten in Antolax nach, als er im Bus neben seinen Kameraden wieder aus München in den Süden rollte. Ob wohl irgendjemand in Luteta, dort in einer Welt, an die er sich nur noch schemenhaft erinnerte, eine Vorstellung von der Macht und der Größe dieses Reiches hatte, dem er jetzt dienen durfte? Als man ihn in das Geheimnis des ›Rutsches‹ eingeweiht, ihn darin unterwiesen hatte, was er tun, wie er seine Gedanken fokussieren musste, um sich von der einen Welt in die andere zu versetzen, hatten seine Ausbilder ihm eingeschärft, dies alles geschehe nur, um jene Abtrünnigen, die gegen den Willen der Götter handelten, wieder auf den einzig erlaubten Pfad der Tugend zurückzuholen, ihnen
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