Nebenweit (German Edition)
kostete sie drei Reichsmark, aber ich schenke sie Ihnen. Mein Sohn sammelt nämlich Münzen. Der freut sich bestimmt, wenn ich ihm eine ausländische Münze mitbringe.« Das war mir recht, ich hätte die Zeitung nur höchst ungern wieder hergegeben. Offenbar war die Frau etwas kurzsichtig, sonst hätte sie die Aufschrift ›Europäische Föderation‹ erkannt. Aber sie drehte sie nur zwischen den Fingern und bewunderte die Gestalt der Justitia auf der Rückseite der Münze.
Ich steckte die Zeitung in die Tasche und sah zu, dass ich aus dem Laden verschwand, um etwaigen Fragen zu entgehen, falls die Frau doch noch bemerkte, dass dies jedenfalls keine amerikanische Münze war. Kein Wunder, dass mir kein Bart gewachsen war, dachte ich, als ich wieder draußen auf der Straße stand. Meine Fantasie begann zu arbeiten, schließlich war sie durch mein schriftstellerisches Hobby ganz gut trainiert. Also nicht Rip van Winkle, nicht die Zeit verschlafen, sagte mir das Datum auf der Zeitung. Ich hatte beim Rasieren die Nachrichten vom 20. September 2015 gehört, und in dieser meiner neuen Umgebung war heute ebenfalls der 20. September 2015. Nur dass es hier ein Reichsprotektorat Ost gab, dessen Hauptstadt vermutlich Moskau war.
Wenn ich mich also nicht vorwärts in der Zeit bewegt hatte, dann eben seitwärts. Mir wurde das allmählich unheimlich, aber in einem hinteren Winkel meines Bewusstseins regte sich eine Ahnung. Allerdings eine recht beunruhigende, eine, die mich mit aller Gewalt an ein paar utopische Romane denken ließ, die ich während meiner Zeit in den CSA gelesen hatte.
Auf einer Tafel vor meinem geistigen Auge loderte ›Parallelwelt‹ in grellroter Farbe. Und dann huschten Handlungszüge aus Frederic Browns ›Das andere Universum‹ an mir vorbei und mich überlief ein kalter Schauder.
Ich stand jetzt auf dem Parkplatz, benommen von den Gedanken, die sich mir aufdrängten. Die Angst schärfte meinen Blick, lenkte ihn auf Details, die ich sonst vielleicht übersehen hätte. Ich musterte die Autos, die dort standen, und entdeckte kein einziges mir vertrautes Modell. Allenfalls eines davon, es war von ungewohnt rundlicher Form, erinnerte mich vage an einen Volkswagen aus meiner Jugend, nur dass er etwas größer war und ein fremdartig wirkendes Nummernschild trug. Es hatte die übliche rechteckige Form, aber da war links ein weißes Feld mit einen stilisierten Adler, der ein rundes Symbol – wieder dieses eigenartige Kreuz mit den angesetzten Balken – in den Krallen hielt und darunter eine Buchstaben-und-Ziffern-Kombination, die mir nichts sagte: GR-OBB 2456 . Der Mercedes daneben wirkte kantig und fremd wie ein Oldtimer, war aber dem Zustand seines Lacks nach zu schließen ganz offensichtlich neueren Datums. Und dann stand da noch eine lang gestreckte, schwarze Limousine, die eigentlich besser vor ein Grandhotel als vor einen Supermarkt gepasst hätte, mit einer richtigen Kühlerfigur, wie ich sie nur von Mercedes und Rolls Royce kannte. Diese hier bestand aus einem massiven H mit den Buchstaben HORCH darüber.
Sollte das Undenkbare wirklich Realität geworden sein, sollte mich etwas in eine Parallelwelt versetzt haben, die meiner ›Heimatdimension‹ bis auf kleine Details – die ›Reichsmark‹, der › KONSUM ‹, die Nummernschilder – glich? Und wo hörten die Gemeinsamkeiten auf, wo lagen die fundamentalen Unterschiede?
Eisiger Schrecken durchzuckte mich, ich musste stehen bleiben, suchte an einer Parkbank Halt und setzte mich.
War ich ganz allein in jener fremden Welt? Was war aus Carol geworden? Instinktiv griff ich an mein Handgelenk, tippte an mein Mobi, sagte: »Zuhause«, um entweder sie oder wenigstens den vertrauten Anrufbeantworter zu hören – aber das Display meldete mir: »Kein Netz.« Am Rand des Parkplatzes stand eine Rufsäule in auffälligem Gelb mit dem Symbol eines Telefonhörers darauf, aber um die zu benutzen, würde ich sicher ›Reichsmark‹ brauchen oder jedenfalls die dazugehörigen Münzeinheiten. Heller? Pfennig?
Nein, das hatte jetzt keinen Sinn und ebenso wenig hatte es Sinn, meine ursprüngliche Absicht zu verwirklichen, die mir eigentlich erst während meines Fußmarsches klar geworden war: ein Besuch auf dem Polizeirevier nämlich, um meinen auf so rätselhafte Weise abhandengekommenen Wagen zu melden. An Carol wagte ich gar nicht zu denken, denn wenn meine Theorie stimmte, war ihr Verschwinden ja durchaus plausibel. Sofern man innerhalb einer solchen Theorie
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