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Nebenweit (German Edition)

Nebenweit (German Edition)

Titel: Nebenweit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Zwack
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hatte, nicht vor einer Dreiviertelstunde sondern vor viel längerer Zeit erfolgt und hatte mein Leben schon mehrere Tage einen völlig anderen, mir unbekannten Verlauf genommen? Doch ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass dies der 20. September war, und ich erinnerte mich deutlich, dass der Sprecher im Radio dieses Datum genannt hatte, als ich mir beim Rasieren die Morgennachrichten angehört hatte. Oder war das Teil meiner Amnesievorstellungen?
    Wider jede Vernunft beschloss ich, zu der Forsthütte zurückzukehren und noch einmal nach meinem Wagen zu suchen – griff mir aber an den Kopf, als ich zehn Minuten später und jetzt leicht schweißgebadet an dem umgestürzten Baum ankam und dort weder einen Wagen noch sonstige Hinweise fand, die mich hätten weiterführen können.
    Ich beschloss, zu Fuß ins Dorf zu gehen und dort zu versuchen, wieder Anschluss an die vertraute Wirklichkeit zu finden, kletterte über den Baumstamm, richtete mich auf zwanzig Minuten strammen Fußmarsch ein und begann zügig auszuschreiten. Von dem schönen Herbsttag merkte ich wenig, nahm weder den strahlend blauen Himmel noch das muntere Zwitschern der Vögel bewusst zur Kenntnis, sondern grübelte, um eine rationale Erklärung für das seltsame Geschehen zu finden.
    Carol war nicht im Haus gewesen, vermutlich war sie mit dem Wagen in die Ortschaft gefahren. Falls sie im Haus gewesen wäre, etwa im Keller oder auf dem Dachboden oder vielleicht in der Dusche, also an Orten, wo sie weder mein Klingeln noch mein lautes Rufen hätte hören können, hätte zumindest Charlie anschlagen müssen. Das Haus war also offensichtlich leer.
    Ich hatte ihr beim Verlassen des Hauses zugerufen, dass ich in die Ortschaft fahren würde, soweit ich mich erinnere, hatte sie auch darauf kurz reagiert. ›Ja, schon gut‹ oder ›Geht klar‹ oder so, glaubte ich mich zu erinnern. Aber wenn sie ihren Wagen genommen hatte, hätte der Baumstamm über der Straße sie ja ebenso behindert wie mich … Das kam also nicht infrage. Und wenn sie zu Fuß weggegangen war? Ja, das musste es sein, die angenehme Wärme hatte sie vielleicht zu einem außerplanmäßigen Spaziergang mit Charlie veranlasst …
    Die ersten Häuser von Unterwössen tauchten hinter einer Wegbiegung auf. Ich machte mir klar, dass ich ohne bestimmtes Ziel losmarschiert war, als mich lauter Gesang jugendlicher Stimmen aus meinen Gedanken riss. Ich hörte genauer hin und vernahm sogar den rhythmischen Klang einer Trommel. Auf dem Weg vor mir tauchte eine Gruppe Jugendlicher auf, junge Männer, nein, eigentlich noch Knaben, um die fünfzehn Jahre alt, schätzte ich. Ein gutes Dutzend waren es, und sie trugen alle eine Art Uniform, wie ich beim Näherkommen erkannte. Schwarze Shorts, braune Hemden, ein schwarzes Halstuch und am Arm eine rot-weiße Binde mit einem seltsam geformten Kreuz darauf, wie ich jetzt aus wenigen Metern Entfernung ausmachen konnte. Ein schräg stehendes schwarzes Balkenkreuz, von dessen Enden im rechten Winkel jeweils ein weiterer, gleich langer Balken ausging. Ein etwas älterer Junge ging ihnen mit einer Fahne voraus, die das gleiche Symbol auf rot-weißem Grund zeigte. Hinter ihm marschierte ein Junge mit einer umgehängten Trommel, die er mit großem Elan bearbeitete.
    »… Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren im Geist in unseren Reihen mit …«, glaubte ich aus dem Gesang zu verstehen. Was waren das für junge Leute? Ich hätte gern einen von ihnen gefragt, aber sie wirkten so konzentriert, so zielstrebig und zugleich irgendwie abweisend, dass ich es lieber bleiben ließ und ihnen lediglich verwundert nachblickte, als sie schließlich hinter der Wegbiegung verschwanden. »… marschieren im Geist in unseren Reihen mit«, verhallte ihr Lied.
    Ich ging weiter, erreichte den Ortseingang und stand kurz darauf vor dem nächsten Rätsel. Auf einer Anschlagtafel sah ich ein Plakat, das die halbe Tafel bedeckte und zur Teilnahme an einer Kundgebung in der Landeshauptstadt einlud. Es war in grellen Farben gehalten, reißerisch wirkte es, und zeigte zwei finstere Gestalten in Ballonmützen, die auf einen jungen Mann einschlugen.
    In grellen Lettern verkündete es:
Volksgenossen, kommt am 9. November am Jahrestag der Blutzeugen der Bewegung zur Parade.
     
    Bei genauerem Hinsehen konnte ich erkennen, dass das Opfer der beiden düsteren Gestalten eine ähnliche Armbinde trug, wie ich sie bei den Jugendlichen gesehen hatte, ein schwarzes Balkenkreuz auf rot-weißem

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