Nebenweit (German Edition)
Grund. Ich ging näher hin und las auf der unteren Hälfte des Plakats:
Veranstalter: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, Gau Oberbayern.
Von dieser Partei hatte ich noch nie gehört, auch die Bezeichnung ›Gau Oberbayern‹ war mir fremd, ich kannte nur den Begriff ›Regierungsbezirk‹. Daneben, aber nur etwa halb so groß, klebte ein Plakat mit einer Szene offenbar auf einem Kreuzfahrtschiff, vergnügte Menschen in Ferienlaune unter blauem Ferienhimmel.
Kraft durch Freude,
stand in fetten roten Lettern darüber und in etwas kleinerer Schrift
Deutsche Arbeitsfront, Amt für Urlaub, Reisen und Wandern.
Ich setzte kopfschüttelnd meinen Weg fort, immer unsicherer, wohin ich eigentlich wollte. Ich kam mir vor, als wäre ich in einer fremden Welt erwacht. Eine Geschichte fiel mir ein, die ich in meiner Schulzeit im Englischunterricht gelesen hatte. Sie handelte von einem amerikanischen Bauern namens Rip van Winkle, der nach heftigem Alkoholgenuss im Wald eingeschlafen und – wie er allerdings erst viel später erfuhr – zwanzig Jahre später in einer ihm fremden Welt wieder aufgewacht war, in dem die amerikanischen Kolonisten sich inzwischen im Unabhängigkeitskrieg von der britischen Kolonialherrschaft befreit hatten. Ich griff mir ans Kinn, um zu überprüfen, ob mir inzwischen auch wie dem Protagonisten der Geschichte ein langer Bart gewachsen war. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, dass dies nicht der Fall war, was freilich das Rätsel meiner so stark veränderten Umwelt nicht löste.
Eine Hupe riss mich aus meinem Sinnieren. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich vom Fußweg abgekommen und auf die Straße getreten war. Als ich erschreckt den Weg frei machte, brauste ein schwerer Wagen an mir vorbei. Das Modell war mir fremd, es wirkte klobig und ganz anders als die Produkte der mir recht gut vertrauten Hersteller. Als ich ihm unwillkürlich nachblickte, stellte ich fest, dass auch das Nummernschild nicht das vertraute Symbol mit den Umrissen der Europäischen Föderation zeigte. Und außer britischen Fahrzeugen mit dem unverkennbaren Union Jack auf dem Nummernschild, die sich gelegentlich zu uns verirrten, waren außereuropäische Fahrzeuge hierzulande doch recht selten.
Gedankenverloren trottete ich weiter. Jeglicher Schwung, der bis vor Kurzem meine Schritte beflügelt hatte, war mir abhandengekommen, als ich wenig später den Supermarkt erreicht hatte. Allerdings stand über dessen Eingang nicht ALDI , sondern in ebenso großen Buchstaben KONSUM . Jetzt war es um meine Fassung endgültig geschehen. Das alles – die uniformierten Jugendlichen, die Nummernschilder, die Plakate und natürlich das leere Haus und das Verschwinden meines Autos – sprach eine deutliche Sprache: Die unsanfte Kollision in der Forsthütte hatte mich aus meiner gewohnten Umgebung herausgerissen und mich woanders abgesetzt.
Woanders! Aber wo, wann? Ich betrat den Supermarkt und ging zu dem Zeitungsstand gleich hinter dem Eingang und griff nach der ersten Zeitung, die mir in die Hand fiel. Die ›Münchner Neueste Nachrichten‹ – endlich ein vertrauter Anblick, ich war seit Jahrzehnten treuer Abonnent und hatte das Blatt selbst während meiner Auslandstätigkeit gelesen, wo immer ich es mir beschaffen konnte. Mein erster Blick fiel auf die Datumszeile. 20. September 2015 las ich und atmete erleichtert auf. Die Rip-van-Winkle-Theorie stimmte also nicht … wenn da bloß die Schlagzeile nicht gewesen wäre.
Moskau: Attentat auf Reichsprotektor Vogt im Reichsprotektorat Ost,
zog sich in Balkenschrift über die ganze Seite. Darunter war in kleiner Schrift zu lesen:
Standartenführer Vogt nur leicht verletzt Attentäter von Leibwache erschossen.
Ich griff in die Tasche, holte eine Fünf-Eurotalermünze heraus und reichte sie der Frau hinter dem Tresen. Die nahm die Münze erstaunt in die Hand, starrte sie verblüfft an und fragte mit allen Anzeichen der Verwunderung: »Was ist das denn für Geld? Das habe ich noch nie gesehen. Sind Sie Ausländer?«
Ich erschrak und wundere mich jetzt noch über meine Geistesgegenwart, die mich darauf antworten ließ: »Ja, Amerikaner.« Ich rollte sogar das R, wie Amerikaner das taten, und erstickte damit möglicherweise bei der Frau aufkeimenden Argwohn.
»Oh, das ist interessant«, meinte sie und beäugte die Münze interessiert. »Da sollten Sie auf die Bank gehen und Geld tauschen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen die Zeitung trotzdem. Eigentlich
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