Nebenweit (German Edition)
Teint und dem krausen schwarzen Haar nach könnten es Italiener oder Franzosen sein, aber sie reagieren auf Kontaktversuche in diesen beiden Sprachen überhaupt nicht. Vielleicht sind sie nicht nur stumm, sondern auch taub. Bekleidet sind sie mit einer Art olivgrünem Overall, der keinerlei Schlüsse auf ihre Herkunft oder soziale Stellung zulässt.
Ich gebe mir Mühe, den Ablauf der Zeit aus den Dunkelperioden abzuleiten, und habe einmal eine ganze Nacht lang die Minuten gezählt, um mich zu vergewissern, dass die Dunkelperiode etwa zwölf Stunden beträgt. Nach dieser einzigen mir zugänglichen Zeitrechnung – meine Armbanduhr hat man mir weggenommen – dürfte ich mich unter Einbeziehung von ein paar Tagen Bewusstlosigkeit seit etwa einem Monat hier befinden und wundere mich manchmal, dass ich nicht längst verrückt geworden bin.
Die ersten Tage und Nächte habe ich fast ausschließlich mit Schlafen verbracht. Für diesen Zeitraum fehlt mir jegliches Gefühl. Ich vermute, dass man mich mit irgendwelchen Drogen in den Schlaf versetzt hat. Vielleicht sogar, um den Heilungsprozess zu fördern. Dunkel erinnere ich mich an Infusionsschläuche an meinen Handgelenken und an eine Art gymnastischer Übungen, die man mit mir veranstaltete, ohne dass ich sie so richtig mitbekam. Ich weiß nur, dass man meine Arme und Beine bewegt hat, was wohl erklärt, wieso ich nach meiner Genesung, also nachdem man mir den Kopfverband abgenommen hatte, ohne große Mühe im Zimmer auf und ab gehen konnte. Und das tute ich inzwischen regelmäßig, gehe, laufe auf der Stelle, mache Liegestütze, Kniebeugen und eine Anzahl weiterer Übungen, die mir bislang stets zutiefst verhasst waren. Aber eines Tages wird, das hoffe ich wenigstens, diese Isolierhaft zu Ende sein und dann will ich nicht beim ersten Schritt in die Freiheit in mir zusammensacken.
Meine Gedanken wandern ständig im Kreis, wenn ich nicht wieder einmal darüber nachdenke, wie es Carol wohl ergehen mag und wie sie sich wohl mein Verschwinden zusammenreimt … Es gibt da ja die berühmten Geschichten von Ehemännern, die Zigaretten holen gehen, spurlos verschwinden und nie wieder gesehen werden. Dann grüble ich darüber nach, was das für eine Welt sein mag, in die mich eine unbekannte Kraft versetzt hat. Man hat mir meinen ganzen Tascheninhalt weggenommen, auch die Zeitung, die mir die Kioskfrau geschenkt hatte, und so gibt es für mich außer meiner visuellen Erinnerung nichts, was mir Rückschlüsse auf meine augenblickliche Umgebung ermöglichen würde. Immer vorausgesetzt, dass ich mich noch in dieser befand und der neuerliche Schlag auf den Kopf nicht ähnliche Folgen wie die erste Kollision gehabt hatte.
Vielleicht waren all die Bilder, an die ich mich erinnerte, auch nur Teil eines besonders lebhaften Traums – die Veränderungen an unserem Haus, die uniformierten Jugendlichen im Dorf, die Plakate, die fremdartigen Autos sowie die Überschrift in der Zeitung. Was hätte ich doch darum gegeben, wenn man mir wenigstens die gelassen hätte. Die Lektüre der Morgenzeitung war für mich immer ein festes Ritual und beschäftigte mich nach dem Frühstück immer mindestens eine Stunde, in der ich mir Aufschluss über das Geschehen in der großen wie der kleinen Welt verschaffte.
Und diese Zeitung mit der so verblüffenden Schlagzeile – ich sah sie noch ganz deutlich vor mir: »Moskau: Attentat auf Reichsprotektor Vogt im Reichsprotektorat Ost« – hatte so fremd auf mich gewirkt, dass ich vermutlich jeden einzelnen Buchstaben im Blatt in mich hineingesogen hätte, in der Hoffnung, so ein Bild von der Welt zu bekommen, in der ich gestrandet war.
Moskau, Reichsprotektorat Ost: das deutete auf eine völlig andere politische Konstellation hin, als ich sie kannte. Eine, in der Russland nicht ein Staat der Europäischen Föderation, sondern ein Gebiet unter fremder Verwaltung war, unter Verwaltung eines Reiches, das nach Lage der Dinge ja nur das deutsche sein konnte. Und Attentat – in Europa hatte es das letzte politisch motivierte Attentat in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegeben, die Unruhen in den Balkanstaaten hatten ihren blutigen Anfang mit dem Anschlag auf den Separatistenführer Karadzic genommen, den ein Geisteskranker aus nächster Nähe erschossen hatte. Sonst gab es so etwas allenfalls in den immer noch nicht ganz normalisierten, ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika oder in den ehemaligen Kolonialstaaten des russischen
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