Nebenweit (German Edition)
ohne meine Antwort abzuwarten, und ließ uns dann wieder allein.
Lukas griff wie ein Blinder nach seiner Tasse, führte sie langsam zum Mund, nahm einen Schluck und stellte sie dann wieder ab. Man konnte ihm ansehen, wie es in ihm arbeitete. So wie ich das beobachtet hatte, hatten er und Carol sich in den letzten Wochen mit dem Schicksalsschlag abgefunden, der sie getroffen hatte, sich sozusagen auf das Leben nach der Katastrophe eingestellt und festgestellt, dass die Wunden allmählich zu verheilen begannen. Dass Bernhard Lukas jetzt wieder aufgetaucht war, auch wenn dies jenseits des unüberbrückbaren Abgrunds zwischen den Welten geschehen war, musste diese Wunden neu aufreißen, neue Hoffnungen wecken, auch wenn es Illusionen waren.
Aber darauf wollte und konnte ich jetzt nicht eingehen. »Ich werde noch heute nach Luteta reisen und die neue Lage mit meinen Kollegen besprechen«, kündigte ich ihm an. »Und dann muss jemand nach Ostpreußen und sich die Leiche dieses Uniformierten ansehen, den man dort aufgefunden hat. Inoffiziell natürlich, aber in so etwas sind unsere Leute geübt.«
Über die Pläne, die ich mit ihm und seinem Zwilling hatte, schwieg ich mich aus. Lukas hatte jetzt genug zu verarbeiten, da war für neue Ideen kein Platz. Im Übrigen wollte ich auch die Meinung meiner Kollegen einholen und die Sache im Rat besprechen. Schließlich ging das, was ich mir ausgedacht hatte, weit über die Befugnisse eines Anderwelt-Residenten hinaus.
Germaniawelt/Gaelia
51
Die beiden letzten Stunden hatten die zwei Männer auf ihrem Marsch durch den Urwald gelegentlich menschliche Spuren entdeckt, abgerissene Fetzen einer Jacke, abgenagte Knochen, die auf menschlichen Verzehr und nicht auf die Mahlzeit eines wilden Tieres deuteten, einen in einer Eiche steckenden Pfeil, und so hatten sie sich schließlich aus dem Schutz der Bäume hervorgewagt und den Rest der Strecke am Flussufer zurückgelegt, beflügelt von dem Wissen, dass das Ziel nicht mehr weit sein konnte.
Die Strapazen der Reise hatten sie gezeichnet; was einmal Uniformen gewesen waren, hing jetzt in Fetzen an ihnen herunter, das Haar ließ keine Anzeichen des militärischen Schnitts mehr erkennen, sondern hing ihnen zottig in das vom Bart verdeckte Gesicht. Aber ihre Augen leuchteten. Noch ein paar Stunden und vor ihnen würden am Horizont die Palisaden von Luteta auftauchen. Und wenig später ein Bad, eine warme Mahlzeit, gekocht am Herd und nicht irgendwo auf einer Waldlichtung, am offenen Feuer unter dem Sternenhimmel, wenn sie das seltene Glück gehabt hatten, einen Hasen oder ein Reh zu erlegen. Doch während des größten Teils ihres Marsches hatten sie sich von wilden Beeren oder Pilzen ernährt. Manchmal auch nur von Baumrinde.
Seit fünf Tagen marschierten sie am Ufer der Sena entlang, was den Vorteil bot, dass sie stets frisches Wasser hatten und sie sich hie und da als Festmahl einen Fisch leisten konnten. Ehe sie die Stelle erreicht hatten, wo die Sena ins Meer mündete, dort, wo in der Anderwelt die Stadt Le Havre stand, war ihr Marsch beschwerlicher gewesen. In Ermangelung einer Karte, die ihnen auch wenig genützt hätte, da all die auf einer Karte verzeichneten Straßen in der Gälerwelt nicht existierten, hatten sie sich dafür entschieden, sich am Meeresufer zu orientieren, auch wenn das ihre Strapazen bestimmt um zwei oder drei Tage verlängert hatte.
Angefangen hatte ihre lange Reise vor zwanzig Tagen, das konnte Ardex an der Datumsanzeige seiner Armbanduhr ablesen. Die erste Etappe hatten sie auf einem Motorrad zurückgelegt, das sie auf der Burg Allenstein entwendet hatten. Der Posten am Tor war ein guter Freund gewesen, der ihnen zwar nicht geglaubt hatte, dass sie dienstlich nach Stettin mussten, wohl aber darauf gehofft hatte, dass ihre Flucht auf lange Sicht auch ihm Nutzen bringen würde.
In Stettin hatten sie das Motorrad dann in einem Wäldchen vor der Stadt versteckt und im Schutz der Nacht zwei Fahrräder gestohlen, auf denen sie zehn Tage lang bis kurz vor die Grenze des Großdeutschen Reichs hinter Groningen gekommen waren. Die Grenzkontrolle ins Protektorat Niederlande hatten sie nicht riskiert, ebenso wenig die Fortsetzung ihrer Fahrt durch das Protektorat selbst, wo holländische und deutsche Polizei nach verdächtigen Gestalten Ausschau hielten. Und verdächtig hatten sie sicherlich gewirkt, ungewaschen, unrasiert und in abgerissenen Uniformen. Aber auf der Burg Allenstein
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