Nebenweit (German Edition)
Dunkelheit umgeben. Als ich um mich tastete, kam ich an einen Schalter, und die Nachttischbeleuchtung flammte auf. Die Vögel zwitscherten immer noch, und jetzt sagte eine Mädchenstimme etwas von »acht Uhr«, aber das Mädchen sprach nicht Deutsch, das war … Japanisch … Ich richtete mich benommen auf und musste mich dazu erst aus der Bettdecke wickeln, die mich wie eine Zwangsjacke umhüllte. Jetzt begriff ich endlich.
Ich war in Japan, in Tokio, und hatte gestern Abend, es war ziemlich spät geworden, den Wecker gestellt, weil ich mich mit Tanabe-san um halb zehn zum Frühstück verabredet hatte. Das Vogelzwitschern kam aus dem Lautsprecher, ebenso die glockenreine Stimme, die mich in japanischer Sprache davon in Kenntnis setzte, dass es acht Uhr war. Ich tastete um mich, bis ich den Knopf zum Ausschalten gefunden hatte, wickelte mich aus der Decke und tappte ins Bad, wo mich aus dem Spiegel ein übernächtigtes Gesicht mit zerzaustem Haar und dunklen Bartstoppeln anstarrte …
Eine halbe Stunde später, geduscht, rasiert und mit einem frischen Oberhemd bekleidet, gefiel ich mir schon besser. Ich bereitete mir mit dem vom Hotel bereitgestellten Kocher eine Tasse Tee und beschloss dann, ein wenig spazieren zu gehen, um die Zeit bis zum Eintreffen von Tanabe-san totzuschlagen. Meine Glieder fühlten sich steif und schwerfällig an, kein Wunder nach zehn Stunden im Flugzeug und dem langen Sitzen gestern Abend im Restaurant. Soweit ich mich erinnerte, war die Ginza nur ein paar Schritte entfernt, und ich war auch ziemlich sicher, dass ich mich nicht verlaufen würde. So schlüpfte ich in meinen Mantel und ging zum Lift. Draußen war es angenehm warm, und ich fühlte mich auch gleich wieder wie zu Hause, auch wenn ich unter den vorüberhastenden Menschen, hauptsächlich zur Arbeit eilenden Büroangestellten, kein einziges europäisches Gesicht entdeckte. Das war bei meinen letzten Aufenthalten im ›anderen‹ Japan anders gewesen.
Es herrschte dichter Verkehr, aber die vielen Autos waren erheblich kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Des Weiteren gab es viel mehr Militärfahrzeuge und Uniformierte. Ich schlenderte bis zum Takashima-Kaufhaus, betrachtete die Kimonos im Schaufenster und überlegte, ob ich Carol und Jessica einen mitbringen sollte, aber das hatte Zeit. An einem Zeitungskiosk suchte ich vergeblich nach einer englischsprachigen Zeitung und erinnerte mich, dass es zu meiner Zeit hier neben den englischen und amerikanischen Blättern auch zwei englischsprachige Blätter aus japanischen Verlagen gegeben hatte. Aber Japan war ja gerade erst im Begriff, wieder in die Staatengemeinschaft zurückzukehren, rief ich mir ins Gedächtnis. Vermutlich würde ich im Fernsehen auch kein CNN finden – falls es den Sender in dieser Welt überhaupt gab.
Schließlich machte ich kehrt und lenkte meine Schritte wieder zum Hotel zurück, brachte den Mantel, den ich in der lauen Herbstluft gar nicht gebraucht hätte, aufs Zimmer zurück und begab mich in den Frühstücksraum. Dort ließ ich mich von einem Smoking tragenden Kellner an einen Tisch geleiten und machte dem Mann mit meinen bescheidenen Japanischkenntnissen und ein paar Handbewegungen klar, dass ich einen Gast erwartete. Ob er mich wirklich verstanden hatte, blieb mir ein Rätsel, auch wenn er unentwegt »Hei, domo!« sagte und sich dabei mehrmals verbeugte.
Ich brauchte nicht lange auf Tanabe-san zu warten. Er war wie gestern gekleidet, nur dass er diesmal eine einfarbig rote Krawatte trug. Als er mich entdeckte, lächelte er, verbeugte sich und nahm auf meine einladende Geste hin Platz. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht«, erkundige er sich höflich und übernahm es dann, für uns beide zu bestellen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich Orangensaft, Kaffee und Toast wünschte und nicht etwa das aus Algen und Reis bestehende japanische Frühstück. »Ich ziehe auch ein westliches Frühstück vor«, vertraute er mir an. »Das habe ich mir in den Staaten angewöhnt.«
Nachdem wir ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht und ich ihm von meinem Morgenspaziergang und meinen Wahrnehmungen berichtet hatte, lehnte er sich zurück und sah mich erwartungsvoll an. »Erlauben Sie mir die Frage, wie wir jetzt unsere wechselseitigen Erkundungen fortsetzen wollen?«, fragte er gestelzt und sehr japanisch. »Ich meine, Sie haben eine weite Reise gemacht, um sich mit mir zu treffen, und haben sich wahrscheinlich mehr von unserer Begegnung
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