Nebenweit (German Edition)
erwartet als nur den Bericht eines in einer fremden Zeitlinie gestrandeten Schriftstellers. Eines Schiffbrüchigen der Dimensionen, würde ich etwas melodramatisch formulieren, wenn ich unser Schicksal in einem Roman verarbeiten müsste …« Seine dunklen Augen sahen mich hinter den Brillengläsern erwartungsvoll an.
»Ich muss Ihnen gestehen, dass ich recht spontan gehandelt habe, als ich den Bericht über Ihr Buch in der Zeitung gelesen habe«, erklärte ich und nahm einen Schluck aus meiner Kaffeetasse. Das Gebräu schmeckte recht ordentlich, und ich erinnerte mich, dass ich auch im ›anderen‹ Japan am Kaffee nichts auszusetzen gehabt hatte. Das haben die Japaner den Amis voraus, dachte ich.
»Ich hatte natürlich gehofft, dass Sie vielleicht irgendwelche Kontakte zu einer der beiden Parallelwelten hätten, die uns ja in erster Linie interessieren, also unserer eigenen und der der Gäler, aber das ist ja offensichtlich nicht der Fall. Zumindest haben Sie bis jetzt nichts dergleichen erwähnt.«
»Ganz richtig«, nickte Tanabe. »Ich war hier zu Anfang total isoliert und habe mir dann nur ganz normale berufliche Kontakte aufgebaut. Ich kann mir auch nach wie vor nicht vorstellen, wie es zu meinem ›Dimensionssprung‹ gekommen ist. Ihnen hat man das ja als einen Zufall in der Größenordnung von eins zu ein paar Milliarden erklärt, aber das ist so unwahrscheinlich, dass ich es mir kaum vorstellen kann. Das würde ja voraussetzen, dass – in Ihrem Fall, meine ich – drei Personen zum exakt gleichen Zeitpunkt am exakt gleichen Ort in zwei verschiedenen Welten hätten sein müssen. Sie, Ihr Pendant und jemand, der die Kollision ausgelöst hat. Mir fehlen die mathematischen Kenntnisse, um die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorgangs zu beurteilen, aber rein instinktiv will mir das nicht in den Kopf.
Ich glaube viel eher, dass es da gewisse Punkte gibt, in denen die parallelen Welten sich berühren, vielleicht überschneiden – wenn nicht ständig, dann vielleicht zu bestimmten Zeitpunkten –, und dass ich das Pech hatte, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein.« Er lächelte.
»In den ersten Monaten nach meinem Dimensionssprung, also nachdem ich mich materiell einigermaßen gefangen hatte, bin ich ein paar Mal an den Hakonesee gefahren und habe die Stelle erforscht, wo mir das passiert ist. Allerdings ohne jedes Ergebnis, muss ich gleich hinzufügen …«
»Den Gedanken hatte ich auch schon«, fiel ich ihm ins Wort. »Aber verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen.«
Tanabe winkte ab. »Schon gut, sparen wir uns die Höflichkeitsfloskeln, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ja, gut, also wie gesagt, ich hatte auch schon daran gedacht, dass es hilfreich sein könnte, wenn auch ich mir einen Eindruck vom – wie soll ich sagen? – Ort des Geschehens mache. Kriminalisten geben auch sehr viel auf instinktive Erkenntnisse, die sich an Tatorten einstellen.«
»Schön, dann sollten wir das tun«, nickte Tanabe. »Ich habe mir den Tag heute für Sie frei gehalten. Da können wir ja vielleicht nach dem Frühstück den Zug nach Hakone nehmen. Im Übrigen ist es dort um diese Jahreszeit sehr schön, die Färbung des Herbstlaubs rund um den See ist beinahe ebenso eindrucksvoll wie das junge Grün im Frühjahr, wenn überall die Kirschen blühen. Und im Shinkansen können wir uns ja weiter über die Welt unterhalten, in der ich ja schon länger lebe als Sie.«
»Shinkansen? Den gibt es also hier auch?«, wunderte ich mich.
»Ja, die Parallelen zwischen den beiden Welten sind doch recht groß. Die Hochgeschwindigkeitszüge hat man in dieser Welt etwa zur gleichen Zeit gebaut wie in der Welt, aus der wir beide kommen, und die ganze technische Entwicklung ist einigermaßen gleich verlaufen. Ich meine Düsenflugzeuge, Prozessrechner, Fernsehen. In der Flugzeugtechnik ist man hier sogar etwas weiter, das liegt vermutlich daran, dass mein Land sich über sechzig Jahre lang praktisch ständig im Krieg befand und immer befürchten musste, von Britannia angegriffen zu werden, das sich ja lange Zeit als eine Art Beschützer Chinas betrachtet hat.«
Wir waren inzwischen bei der zweiten Tasse Kaffee angelangt, und ich hatte mich nach kurzer Überlegung dazu entschlossen, Tanabes Vorschlag anzunehmen. Wir kamen überein, den Zug zu nehmen und für mich ein Zimmer im Bereich von Hakone zu buchen; Tanabe würde am Abend wieder nach Tokio zurückkehren. Er bot an, sich um ein Zimmer zu bemühen und Tickets
Weitere Kostenlose Bücher