Nebenweit (German Edition)
selbstständige Staaten – etwa so selbstständig, wie das in unserer Welt Frankreich, Norwegen oder Holland unter Hitler waren. Bloß, dass es hier keinen Churchill, keinen de Gaulle und keinen Roosevelt gab, auf den sie hoffen konnten. Und die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, aber wenn sie einmal gestorben ist, dauert es lange, vielleicht ewig, bis sie wieder erwacht. Chosen, das Sie Korea nennen, hat das vielleicht am schnellsten erkannt und würde heute selbst im Traum nicht mehr daran denken, etwas anderes als japanisch zu sein.«
Wir einigten uns schnell darüber, dass die Politik des Völkerbundes in dieser Welt eine äußerst segensreiche war und dass die gewaltlose Beendigung jeglicher Kolonialherrschaft um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein großer Erfolg gewesen war, auch wenn Japan sich davon ausgenommen hatte und heute mit stillschweigender Billigung der Weltgemeinschaft seine Eroberungen behalten durfte, zumal es diese nicht als Kolonien, sondern teils als integrale Bestandteile seines Reiches, teils als eine Art Protektorate betrachtete. Und ein Reich war es, auch wenn es sich ein wenig bombastisch ›Groß-ostasiatische Wohlstandssphäre‹ nannte. Da die betroffenen ›Schutzgebiete‹ dem nicht widersprachen, würde das wohl auch noch eine Weile, vielleicht sogar die nächsten Jahrhunderte so bleiben.
Als wir gerade dazu ansetzten, uns über das allem Anschein nach in dieser Welt nicht vorhandene Problem mit islamischen Terroristen zu unterhalten, glitt der Zug bereits nahezu lautlos in den Bahnhof von Odawara, und wir stiegen aus. Die vierzig Minuten Fahrzeit waren wie im Flug vergangen.
Tanabe hatte mir ein Zimmer im Fujiya-Hotel reserviert, einem ehrwürdigen Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert, das mit seinen grünen Dachschindeln und den verspielten Dächern und Türmchen ganz im Stil jener Zeit gehalten war.
Als wir aus dem Taxi stiegen, fiel mir der durchdringende Schwefelgeruch auf, der über der bergigen Landschaft lag, und ich erinnerte mich von früheren Besuchen in der Gegend, dass das ganze Gebiet nicht zuletzt deshalb ein so attraktives Touristenziel war, weil es den in ihre Badekultur verliebten Japanern eine Unzahl von Schwefelquellen bot, die von nahezu jedem Hotel angezapft und als Onsen – Thermalbad – genutzt wurden.
Ich checkte mithilfe Tanabes ein, dankbar für seine Unterstützung, denn das junge Mädchen im Kimono, das sich ständig die Hand vorhielt, um sein Kichern zu verdecken, sprach kein Wort Englisch und arbeitete sich mithilfe meines Begleiters mühsam durch die offenbar recht komplizierte Prozedur, einen Gajin in die Gästeorganisation des Hotels einzugliedern.
Als das Werk schließlich vollbracht, mir mein Zimmer übergeben und meine Reisetasche von dem Mädchen – gegen meinen lahmen Protest – dorthin getragen worden war, traf ich mich mit Tanabe wieder in der Orchid Lounge, wo wir an einem kleinen Tisch am Fenster mit Blick auf den Garten und den Karpfenteich einen kleinen Imbiss einnahmen. Tanabe wies mich dabei auf die wertvollen weißen und goldenen Koi hin, den ganzen Stolz des Hotels, die im Teich majestätisch ihre Bahnen zogen.
Nachdem wir unseren Imbiss beendet hatten, ließen wir uns ein Taxi kommen und uns in den Fuji-Hakone-Izu-Nationalpark fahren, wo mein Begleiter zum ersten Mal den Fuß in diese Welt gesetzt hatte. Die Fahrt führte uns eine Weile am malerischen Uferpanorama des Ashi-Sees entlang, auf dessen ruhigen, im Widerschein der umgebenden Wälder grünlich gefärbten Wellen ein grün lackierter Dreimaster seine Bahnen zog. Er erinnerte mich an ein Modell der ›Santa Maria‹ auf meinem Bücherschrank zu Hause, sah man einmal von der kitschigen grünen Bemalung und der Tatsache ab, dass die Segel gerefft waren. Diese sogenannten Piratenschiffe hatten als Touristentransporter auf dem See eine alte Tradition, ebenso wie der Hakone-Schrein mit seinem roten Tori am Ufer. Tanabe versuchte, mir die religiöse Symbolik in der Shinto-Religion des aus der Ferne wie ein geschwungener Buchstabe T aussehenden Bauwerks zu erklären, was ihm aber nicht ganz gelang.
Als wir den Nationalpark erreichten und ein Stück bergauf gewandert waren, wurde unsere Mühe mit einem Blick auf den Fujisan belohnt. Mit seiner kleinen Schneekappe sowie dem dünnen Wolkengürtel über der Dunstgrenze wirkte er wie ein Postkartenmotiv, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit meinem Mobi ein paar Bilder zu knipsen.
»Ziemlich genau an dieser
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