Nebenwirkungen
aber stirbt auch Cloquet? Diese Frage gab ihm zu denken, aber ein paar simple Strichzeichnungen auf einem Schreibblock, die einer der Wärter angefertigt hatte, machten die Sache ganz klar. Es gab keinen Ausweg. Bald würde er nicht mehr existieren.
Ich werde nicht mehr da sein, dachte er wehmütig, aber Madame Plotnick, die im Gesicht wie irgendwas auf der Speisekarte eines Fischrestaurants aussieht, wird es noch geben. Cloquet geriet langsam in Panik. Er wäre am liebsten weggelaufen und hätte sich versteckt oder, besser noch, wäre etwas Festes und Dauerhaftes geworden - ein solider Sessel zum Beispiel. Ein Sessel hat keine Probleme, dachte er. Er ist da, niemand geht ihm auf die Nerven. Er muß keine Miete zahlen oder sich politisch engagieren. Ein Sessel kann sich niemals den Zeh stoßen oder seine Ohrenschützer verkehrt aufsetzen. Er braucht nicht zu lächeln oder sich die Haare schneiden zu lassen, und man braucht sich keine Sorgen zu machen, daß er plötzlich zu husten anfängt oder eine Szene macht, wenn man ihn zu einer Party mitnimmt. Die Leute sitzen halt in einem Sessel, und wenn diese Leute sterben, dann sitzen andere darin. Seine Logik tröstete Cloquet, und als die Gefängniswärter im Morgengrauen kamen, um ihm den Nacken zu rasieren, tat er so, als sei er ein Sessel. Als sie ihn fragten, was er als Henkersmahl wolle, sagte er: "Ihr fragt ein Möbelstück, was es essen will? Warum polstert man mich nicht einfach auf?" Als sie ihn anstarrten, gab er nach und sagte: "Bloß etwas russische Tunke."
Cloquet war immer Atheist gewesen, aber als der Priester, Pater Bernard, zu ihm kam, fragte er, ob er noch Zeit habe, zu konvertieren.
Pater Bernard schüttelte den Kopf. "Zu dieser Jahreszeit, glaube ich, sind die meisten besseren Religionen ausgebucht", sagte er. "Das Beste, was ich in so kurzer Zeit eventuell machen könnte, wäre vielleicht anzurufen und Sie in was Hinduistischem unterzubringen. Dazu brauche ich allerdings ein Paßfoto."
Zwecklos, überlegte Cloquet. Ich werde meinem Schicksal allein gegenübertreten müssen. Es gibt keinen Gott. Es gibt keinen Sinn im Leben. Nichts hat Dauer. Selbst die Werke des großen Shakespeare werden vergehen, wenn das Weltall ausglüht - kein so schrecklicher Gedanke natürlich, wenn man an ein Stück wie Titus Andronicus denkt, aber wie steht es mit den anderen? Kein Wunder, daß sich verschiedene Leute umbringen! Warum diese Absurdität nicht beenden? Warum in diesem sinnlosen Maskentreiben namens Leben fortfahren? Warum, es sei denn, irgendwo in uns sagt eine Stimme: "Lebe!" Immer hören wir von irgendwoher aus unserem Inneren den Befehl: "Lebe weiter!" Cloquet erkannte die Stimme: es war sein Versicherungsvertreter. Natürlich, dachte er - Fischbein will bloß nicht auszahlen.
Cloquet sehnte sich, frei zu sein - aus dem Gefängnis entlassen zu sein und über eine weite Wiese zu hüpfen. (Cloquet hüpfte immer, wenn er glücklich war. Ja, diese Angewohnheit hatte ihn vor dem Militärdienst bewahrt.) Der Gedanke an die Freiheit ließ ihn sich zugleich heiter und ängstlich fühlen. Wenn ich wirklich frei wäre, dachte er, könnte ich meine Möglichkeiten restlos ausleben. Ich könnte vielleicht Bauchredner werden, wie ich es mir immer gewünscht habe.
Oder in Reizwäsche und mit falscher Nase und Brille im Louvre aufkreuzen. .
Ihm wurde ganz schummerig, als er seine Möglichkeiten überdachte, und er war dabei, in Ohnmacht zu fallen, als ein Wärter seine Zellentür öffnete und ihm sagte, der wahre Mörder Brisseaus habe soeben gestanden. Cloquet sei frei und könne gehen. Cloquet fiel auf seine Knie und küßte den Zellenfußboden. Er sang die Marseillaise. Er weinte! Er tanzte! Drei Tage später war er wieder im Gefängnis: er war in Reizwäsche und mit falscher Nase und Brille im Louvre aufgekreuzt.
Des Schicksals kalte Schulter
(Notizen zu einem Achthundert-Seiten-Roman - dem großen Buch, auf das alle warten)
Die Vorgeschichte: Schottland 1823.
Ein Mann wird verhaftet, weil er einen Kanten Brot gestohlen hat. "Ich mag bloß den Kanten", erklärt er und wird als der Dieb entlarvt, der kürzlich mehrere Speiselokale damit in Schrecken versetzte, daß er lediglich das Endstück des Roastbeefs stahl. Der Beschuldigte, Solomon Entwhistle, wird vor Gericht gezerrt, wo ihn ein gestrenger Richter zu fünf bis zehn Jahren (je nachdem, was eher kommt) Zwangsarbeit verurteilt. Entwhistle wird in ein Verlies gesperrt, und der Schlüssel dazu
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