Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
konnten. Ohne die Leiche des Mädchens gab es keine Beweise, ergo keinen Anklagepunkt. Das Verfahren geriet ins Stocken.
    Die drei wurden vorläufig freigesprochen und durften zu ihren Familien zurückkehren. Aber sie waren gezeichnet. Gemieden und verachtet von den restlichen Schülern, fielen ihre Leistungen rapide ab. Ale drei verließen die Schule und schlugen sich irgendwie durch. Das Mädchen versuchte, eine Stelle als Erzieherin zu bekommen, scheiterte aber immer wieder an ihrer Vergangenheit. Schließlich, mit vierundzwanzig, entlud sich ihr Hass gegen ihren alkoholsüchtigen Stiefvater, der die Familie tyrannisierte. Bei einem Streit erstach sie ihn mit einem Küchenmesser und wanderte in die Strafvollzugsanstalt Halle.
    Der eine Junge, ein schmächtiges Kerlchen mit Brille, verlor ebenfalls den Boden unter den Füßen. Auch er entfremdete sich von seiner Familie, schlug sich eine Weile lang mit Hilfsarbeiterjobs durch, ehe er eine Lehre als Kfz-Mechaniker begann und sie mit Erfolg abschloss. Anstatt diesen Beruf aber auszuüben, ließ er sich als freier Künstler in Leipzig nieder, wo er noch heute lebt. Sein Spezialgebiet sind Metallskulpturen. Sehr bizarre Figuren, das kann ich Ihnen sagen. Die können einem die Angst in die Glieder treiben - vermutlich ein Versuch, seine Vergangenheit zu verarbeiten. Jahrelang lebte er am Existenzminimum, dann kamen die ersten Aufträge. Erst von Privatsammlern, und jetzt sogar von der Stadt. Wie man so hört, wendet sich sein Stern gerade zum Besseren. In der Kunstszene wird er als einer der kommenden Shooting-Stars gehandelt.«
    Pechstein machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. Hannah hatte bis jetzt geduldig und aufmerksam zugehört. Doch hatte sie nicht die geringste Ahnung, warum er ihr das alles erzählte. Abgesehen davon, dass auch hier jemand vermisst wurde, schienen die Fälle nichts miteinander zu tun zu haben. Und noch immer wusste sie nicht, warum Pechstein sie an diesem Tag in Wernigerode observiert hatte.
    »Sie haben mir immer noch keine Erklärung für meine Beschattung geliefert.«
    »Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie meiner ausschweifenden Einleitung wohl noch folgen. Haben Sie noch ein wenig Geduld. Wir kommen jetzt zu dem letzten Jungen, und der ist besonders interessant. Jahrelang habe ich versucht, seiner Spur zu folgen, aber das war außerordentlich schwierig. Wissen Sie, im Gegensatz zu meinen Kollegen war dieser Fall für mich niemals richtig abgeschlossen. Ich habe immer gespürt, dass diese Jugendlichen etwas erlebt hatten, was weit über unser Vorstellungsvermögen hinausging. Aber dann kam die Wende - man wollte die unaufgeklärten Fälle möglichst schnell unter Dach und Fach bringen. Eine unglückliche Fügung. Ich spürte, dass die Jugendlichen kurz davorgestanden hatten, uns alles zu sagen. Aber der Versuch, ihnen die Schuld am Tod des Mädchens in die Schuhe schieben zu wollen, machte alles zunichte.
    Wie auch immer, die Akte wurde geschlossen und nie wieder geöffnet - bis heute. Ich habe beantragt, den Fall wieder aufzurollen. Er steht meines Erachtens in direktem Zusammenhang mit der Entführung von Sylvia Hoffmann und Stefan Bartels. Wenn ich Ihnen die Namen der drei Jugendlichen nenne, die damals verschwanden, werden Sie verstehen.« Hannah beugte sich vor. »Und?«
    »Sie heißen Cynthia Rode, Karl Wolf und Michael von Stetten.«
     
     
     
     
     
38
     
    Hannah hatte das Gefühl, jemand würde ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Der Raum schien zu kippen, als ob sich irgendwo eine Verankerung gelöst habe. »Michael von Stetten war einer der verschwundenen Jugendlichen?«
    »Er ist der Grund, warum ich ein solches Interesse an Ihnen habe«, sagte Pechstein. »Von Stetten ist ein geheimnisvoller Mann - einer, der sich nicht gern in die Karten schauen lässt.« Mit einem Lächeln fügte er hinzu: »Ein gefundenes Fressen für einen Schnüffler wie mich.«
    Hannah wollte ihn unterbrechen, doch Pechstein hob die Hand. »Lassen Sie mich noch kurz erzählen, was ich über ihn herausgefunden habe. Es könnte Ihnen helfen, Ihr Bild zu vervollständigen.«
    Er leerte sein Bierglas zur Hälfte und wischte sich mit einem Papiertuch über den Mund.
    »Michael von Stetten, Jahrgang 1971, geboren in Dresden, keine Geschwister. Ein Einzelkind mit hellem Verstand und ausgeprägtem Interesse an Naturwissenschaften und Geschichte. Sein Vater war Chefarzt an der Carl Gustav Carus Poliklinik, ein Mann von

Weitere Kostenlose Bücher