Nebra
Sie gar nicht wissen, warum ich Sie beschattet habe?«
Da war es wieder: Dieses unverschämte Lächeln. Der Mann schien es wirklich darauf anzulegen, sie herauszufordern. Na gut, das konnte er haben. »Da bin ich ja mal gespannt«, sagte sie mit einem grimmigen Augenaufschlag. »Dafür bin ich sogar bereit, noch ein paar Minuten länger zu bleiben.« »Sehr gut.« Pechstein lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Wussten Sie, dass es in dieser Gegend schon mal einen solchen Fall gegeben hat? Eine Entführung von Jugendlichen - ziemlich spektakulär.« »Muss mir entgangen sein.«
»Sie waren vermutlich noch zu jung damals«, sagte er, während er sich über sein Stoppelhaar strich. »Der Fall liegt zwanzig Jahre zurück. Er ging seinerzeit durch die gesamte Presse. Vier Jugendliche verschwanden am Abend des 30. April 1988. Zwei Schulklassen aus Dresden waren nach Thale gereist, um dort am traditionellen Hexenfest teilzunehmen. Den Nachmittag hatte die Gruppe mit einer Wanderung am Brocken verbracht, in froher Erwartung der abendlichen Feierlichkeiten. Es war kurz nach achtzehn Uhr, als die Lehrer zum Aufbruch drängten und die Gruppe sich talwärts zum Bus bewegte. Unten am Parkplatz stellte man fest, dass vier Schüler fehlten. Zuerst wartete man eine Viertelstunde, doch als sich nichts rührte, lief einer der Lehrer mit einer handverlesenen Gruppe von Schülern zurück. Die Suche verlief ergebnislos, die Schüler blieben verschwunden. Nach zwei Stunden - es ging in-zwischen auf zwanzig Uhr zu - entschied man sich, die Polizei einzuschalten. Der zuständige Beamte riet den aufgebrachten Lehrern, sich zu beruhigen und erst mal nichts zu unternehmen. Es sei Walpurgis, sagte er, da kämen die jungen Leute schon mal auf dumme Ideen. Vielleicht hätten sie Alkohol getrunken und sich verlaufen, vielleicht wollten sie den anderen nur einen Schrecken einjagen, man wisse ja nie, was diesen Siebzehnjährigen so alles einfalle.
Wahrscheinlich seien sie per Anhalter unterwegs, spekulierte er weiter, und befänden sich längst auf dem Weg nach Thale. Er riet dazu, erst den Morgen abzuwarten, ehe man etwas unternehme und alles in Aufruhr versetze. In der Zwischenzeit würde er sich darum kümmern, dass alle nahe liegenden Polizeistationen informiert wären und sich bei ihm meldeten, sobald sie etwas hörten.
Der Anruf erreichte den Lehrer kurz nach sieben Uhr am nächsten Morgen. Drei Jugendliche seien auf der Straße nach Elbingerode aufgegriffen worden, völlig zerlumpt, die Kleidung in Fetzen, an Kopf und Körper blutend. Keiner von ihnen sei fähig oder willens, zu berichten, was in der Nacht geschehen war. Auch über den Verbleib des vierten Gruppenmitglieds, eines Mädchens, wollten sie nichts sagen. Aus dem vermeintlichen Scherz wurde ein Fall für die Kriminalpolizei. Als ich den drei Jugendlichen zum ersten Mal begegnete, war ich fassungslos. Ich war damals knapp fünfzig und hatte bereits einiges erlebt, aber was ich hier sah, verschlug selbst mir die Sprache. An Händen und Füßen der Opfer waren dunkle Striemen zu erkennen, wie sie von Fesseln herrührten. Alle drei hatten Brandzeichen im Nacken, und einem war sogar die Nase gebrochen worden. Ihre Körper waren übersät mit Prellungen, Platzwunden, Abschürfungen und Verbrennungen. Hinzu kam, dass alle unter Schock standen. Anfangs konnten wir noch einzelne Worte aufschnappen, später redeten sie überhaupt nicht mehr. Zurück in Leipzig, wurden sie ins Hospital gebracht und dort von einem Team aus Ärzten und Psychologen betreut, während wir von der Polizei weiter nach dem Mädchen fahndeten.
Um es kurz zu machen, wir fanden nichts. Weder die erwähnte Höhle noch den Ort, von dem aus die drei angeblich ihre Flucht angetreten hatten. Es war ein Desaster. Als dann klar wurde, dass die drei Jugendlichen sich auch weiterhin hartnäckig weigern würden, über den Fall zu sprechen, begann sich eine Gruppe innerhalb der Polizei zu bilden, die behauptete, die drei hätten in jugendlichem Übermut den Tod des Mädchens selbst verschuldet und sich, um ihre Geschichte glaubhaft zu machen, die Verletzungen selbst zugefügt. Ich hielt diese Theorie für Quatsch, aber nach einer Weile stand ich mit meiner Meinung ziemlich allein. Es wurde Anklage erhoben vonseiten des Staates. Die Jugendlichen wurden in Verwahrung genommen, einzeln in Zellen gesperrt und wieder und wieder befragt, so lange, bis wir sie nicht mehr guten Gewissens festhalten
Weitere Kostenlose Bücher