Nebra
Trisomie-21 litten. Sie spielte mit ihnen, bastelte, machte Ausflüge, ging mit ihnen zum Essen, brachte sie auf die Toilette - kurzum, sie war wie eine Mutter zu ihnen. Dass man ihr eine solch verantwortungsvolle Stelle angeboten hatte, zeigte, für wie vertrauenswürdig man sie hielt. Die Tatsache, dass sie über Nacht wieder zurück in den Bau musste, änderte nichts daran. Cynthia hatte sich in all den Jahren nicht das Geringste zuschulden kommen lassen, galt als intelligent, aufmerksam und zu-rückhaltend. Dass sie nebenher ihren ersten Dan im Taekwondo abgelegt hatte, bereitete niemandem Kopfzerbrechen. Es unterstrich ihren Ehrgeiz, ins normale Leben zurückkehren zu wollen. Noch drei Jahre, dann hatte sie es geschafft, dann war sie wieder ein freier Mensch.
»Cynthia Rode?« Der Wachhabende, der vor dem Besucherraum stand, war neu hier. Ein junger, gutaussehender Bursche von vielleicht fünfundzwanzig Jahren und, wie es schien, noch grün hinter den Ohren. »So ist es.«
Der Mann nickte und zeichnete auf seinem Klemmbrett etwas ab. »Sie dürfen eintreten. Man erwartet Sie bereits.« Sie verabschiedete sich von der Beamtin, die sie begleitet hatte, und betrat den Besucherraum. Es war ein spartanisch eingerichtetes Zimmer, das jedoch geradezu anheimelnd wirkte, verglichen mit den Besucherzellen im geschlossenen Vollzug. Hier standen ein Tisch mit vier Stühlen, ein paar Bücherregale sowie eine modern wirkende Ledercouch, die das Zimmer von der rechten Seite aus dominierte. Ein Mann saß darauf. Knappe vierzig, hochgewachsen, das dunkle Haar ordentlich gescheitelt. Er trug eine teuer aussehende Brille mit dunklem Rand und musterte sie eingehend. Sein markantes Gesicht wurde von einer Narbe dominiert, die sich von seiner Oberlippe bis kurz unter das rechte Auge zog. Er erhob sich, als die Frau das Zimmer betrat.
»Cyn.« Er ging auf sie zu, die Hand zum Gruß ausgestreckt. »Es tut mir leid, dass ich einfach so hier hereinplatze, aber ich muss für ein paar Tage verreisen und wollte dir vorher die frohe Botschaft unbedingt persönlich mitteilen.« Die Hand ignorierend, schlang die Frau ihre Arme um ihn und drückte sich an ihn. Der Mann, irritiert über so viel stürmische Wiedersehensfreude, zögerte kurz, erwiderte dann aber die Umarmung.
Als er Tränen an seinem Hals spürte, löste er sich wieder von ihr. »Was ist denn los?«, fragte er. »Warum so emotional heute?«
Sie wischte sich über die Augen. »Ach nichts. Irgendetwas liegt in der Luft. Ist vielleicht der Mond. Ich heule heute wegen jeder Kleinigkeit. Und dich wiederzusehen ... es ist so unerwartet.«
»Ja, ich weiß, ich hätte mich viel früher blicken lassen sollen, aber der Job frisst mich momentan auf. Das vergangene Jahr war die Hölle. Ein Termin jagte den anderen. Ständig musste ich zwischen den USA und Deutschland hin- und herreisen. Aber was erzähle ich? Bitte entschuldige, du bist hier drin und ich draußen. Jammern auf hohem Niveau nennt man das, glaube ich. Das war wirklich blöd von mir.« Er bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.
Cynthia kramte in ihrer Trainingshose und förderte ein benutztes Taschentuch zutage. Nachdem sie sich ausgiebig die Nase geputzt hatte, sagte sie: »Sie behandeln mich gut hier, wirklich. Essen ist okay, ich habe eine Arbeit, und an den Re-sozialisierungsseminaren nehme ich mittlerweile mit viel Humor teil. Also alles im grünen Bereich.« Der Mann setzte sich wieder und klopfte neben sich auf das Polster. »Die Arbeit mit den Kindern gefällt dir, oder?« »Oh ja. Es gibt nichts, was ich lieber täte.« Cynthia wischte sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel und setzte sich neben ihn. »Es ist wirklich ein ganz besonderer Job. Sie sind so ... so ehrlich, verstehst du? Ich habe noch nie so aufrichtige und herzliche Menschen kennengelernt. Keine Falschheit, keine Lügen, keine niederen Absichten. Nur offene Gesichter. Wenn sie Angst haben, suchen sie Schutz, und wenn sie jemanden nicht mögen, dann sagen und zeigen sie das sofort. Klar muss man aufpassen, manchmal gibt es Streit, und wenn sie in die Pubertät kommen, kann es schon mal schwieriger werden. Manche von ihnen haben dann nur noch Sex im Kopf, aber das habe ich im Griff. Wir machen ein paar Witze oder unternehmen etwas, das bringt sie auf andere Gedanken. Außerdem ist nichts Verwerfliches dran. Wir reden drüber und lachen, und es ist in Ordnung so.« Sie faltete ihre Hände zwischen den Knien. »Danke, dass du mir diesen Job
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