Nebra
und blinkend wie die Lagerfeuer der Götter. Eine Nacht, wie geschaffen für eine Anrufung.
Der Schamane verließ den Pfad und wandte sich nach rechts. Nicht weit entfernt lag eine Höhle, dorthin wollte er gehen. Er musste jetzt vorsichtig sein, denn seine Schuhe aus Birkenrinde waren ungeeignet, um damit auf rutschigem Geröll zu gehen. Schon von weitem konnte er sehen, dass jemand in der Höhle ein Feuer entzündet hatte. Ein heller Schein drang aus einer Öffnung in der Felswand und tauchte den unteren Bereich der Böschung in gelbes Licht. Der Geruch von frisch verbrannten Zweigen stieg ihm in die Nase. Sie war also bereits vor ihm angekommen. Das wunderte ihn nicht. Sie nahm die Anrufungen ernst, mehr noch als er selbst. Hätte man Glaube und Hingabe in eine Waagschale legen können, so wäre das Pendel zu ihrer Seite ausgeschlagen. Doch er empfand keinen Neid. Sein eigener Glaube war immer noch stark genug, um den meisten Versuchungen zu trotzen. Doch wer hätte ermessen können, dass es so lange dauern würde. Zwanzig Jahre waren seit dem letzten Beschwörungsversuch vergangen. Zwanzig Jahre auf der Suche nach Antworten. Zwanzig Jahre des Fastens, der Entbehrung und der Selbstaufgabe. Eine unvorstellbar lange Zeit, wenn man im Verborgenen leben und das Dasein eines Schattens führen musste. Doch damit war es nun vorbei. Wenn die Runen nicht trogen, so stand ihnen in den kommenden Tagen ein neues Fenster offen. Alles, was sie jetzt noch benötigten, war ein Zeichen. Als er die Höhle erreichte, sah er die zwei Wächter, die rechts und links des Eingangs kauerten. Fast hätte er sie nicht bemerkt, so sehr verschmolz die Farbe ihres Fells mit dem Grau der Felswand. Reglos hockten sie da und starrten ihn aus ihren kalten Augen an. Ihn schauderte. Die Hand um seinen Stab gekrallt, senkte er den Kopf und schob die Matte aus Gras und Zweigen, die den Höhleneingang versperrte, beiseite. Die Augen vor der plötzlichen Helligkeit schließend, trat er ein.
Der schwere Geruch verbrannter Kräuter schlug ihm entgegen. Ein rot flackerndes Feuer warf zuckende Schatten an die Wände. »Du bist da.«
Es klang eher wie eine Frage denn wie eine Feststellung. Die Frau, die mit weit ausgebreiteten Armen vor dem Feuer kniete, hob ihren Kopf. »Ich habe dich erwartet.«
Die Seherin bot wie immer einen erstaunlichen Anblick. Obwohl sie dieses heilige Amt schon viel länger innehatte als er, war sie wie immer bestrebt, sich zu jeder Zeremonie ein anderes Aussehen zu verleihen. Heute war sie als Vogel gekommen. Schwarze Federn klebten auf ihren nackten Schultern und zogen sich über den gesamten Rücken hinab. Ihre sonst grauen Haare waren schwarz gefärbt und mit Lederbändern zu Dutzenden von kleinen Zöpfen geflochten. Bronzene Glöckchen klingelten in ihnen bei jeder Bewegung ihres Kopfes. Auf ihr Gesicht hatte sie mit Hennafarbe Eulenfedern gemalt, die sie wie einen Vogel aussehen ließen. Auf ihrem Kopf thronte eine Tiara aus Laub und Beeren, das Zeichen ihrer Priesterwürde. Die messerscharfen Zähne, die ihr mit fünfzehn, während des Initiationsritus, zugespitzt worden waren, unterstrichen ihr raubtierhaftes Aussehen.
»Der Mond ist eben erst aufgegangen«, sagte er.
Die Erklärung schien der Seherin zu genügen. Sie nickte knapp und winkte ihn zu sich heran.
Der Mann trat ans Feuer und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Ganz in der Tradition der Ahnen war die Höhle von oben bis unten geschmückt. Geweihe, Felle und Knochen verdeckten große Teile der kargen Felswände. Viele der Knochen waren geschnitzt oder zu kostbaren kleinen Schmuckgegenständen verarbeitet worden. Bronzene Teller, Kelche und Schalen standen in Vertiefungen, die in die Felswände geschlagen worden waren. In manchen von ihnen befanden sich getrocknete Kräuter, andere waren mit dem Blut frisch erlegter Tiere gefüllt. Der Mann nickte. Es schien alles in Ordnung zu sein. Wie immer hatte die Seherin die Zeremonie mit größter Gewissenhaftigkeit vorbereitet. »Wie lange noch?«
»Die Vorbereitungen sind abgeschlossen«, sagte sie und sah ihm dabei tief in die Augen. »Wir können mit der Anrufung beginnen.«
Der Mann runzelte die Stirn. War da etwa ein Anflug von Furcht in ihrem Blick? Er schüttelte innerlich den Kopf. Unmöglich. Die Seherin hatte sich noch nie vor etwas geängstigt. An ihrer Seite hatte er die dunkelsten Abgründe durchschritten, war in die verborgensten Winkel der menschlichen Seele vorgedrungen. Und immer war sie
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